Covid-19: Eine Krise auch für die Demokratie?
Nur noch eine Minderheit der Länder Europas setzt in der Corona-Krise auf Empfehlungen und Freiwilligkeit. Die meisten haben inzwischen mehr oder weniger harte Ausgangsbeschränkungen sowie in vielen Fällen auch den Ausnahmezustand ausgerufen. Kommentatoren warnen vor einer Aushöhlung des Rechtsstaats.
Wir sind nicht im Krieg
Gerade jetzt müssen sich Demokratien beweisen, fordert Chefredakteur Fabio Pontiggia in Corriere del Ticino:
„Wenn wir Freiheit und Rechte teilweise oder ganz aussetzen, wenn wir die Entscheidungsverfahren beugen oder umgehen, die die Substanz der Demokratie bilden, leugnen wir das, was Jahrhunderte theoretischer Überlegungen, politischer Kämpfe und Opfer von Menschenleben gefordert hat. ... Vom Virus bedroht, können Deutschland, Frankreich, Italien oder die Schweiz nicht wie China, Russland oder Saudi-Arabien reagieren. Unsere Demokratien befinden sich nicht im Krieg: Sie befinden sich in einer gesundheitlichen Notlage. Sie stehen ihr als Demokratien gegenüber. Wenn sie illiberal werden, dann können sie den Verfechtern der 'illiberalen Demokratie', die unter uns sind und sich ins Fäustchen lachen, keine Lektionen erteilen.“
Menschenrechte als Risikogruppe
Auch Julia Laffranque, Richterin beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), warnt in Postimees:
„Der Kampf gegen das Virus darf nicht zum alleinigen Ziel werden, das alle Mittel heiligt. Die Menschenrechte müssen geachtet werden. Auch wenn die EU in medizinischen Fragen nur begrenzte Kompetenzen hat, muss sie bereit sein, mit rechtmäßigen Mitteln gegen Corona zu kämpfen. Darüber hinaus muss sie auch international für Menschenrechte und Demokratie stehen, wenn sie in diesen Fragen ernst genommen werden will. Sonst werden undemokratische Staaten, die mit Falschinformationen die Öffentlichkeit manipulieren, die Schwäche der EU ausnutzen.“
Pandemie darf kein Blankoscheck sein
Dänemarks Regierung will im Eilverfahren Gesetze zur Bewältigung der Corona-Krise beschließen, darunter ein Versammlungsverbot für mehr als zwei Personen. Politiken warnt vor einem allzu schnellen Vorpreschen:
„Ein solch extremer Eingriff in die Versammlungsfreiheit - de facto ein Verbot - muss außerordentlich gut begründet werden. Gibt es einen gesundheitlichen Effekt, wenn die Personenzahl von zehn auf zwei reduziert wird? Wie groß ist dieser Effekt und welche Experten machen ihn geltend? Solche Fragen muss das Parlament beantworten, bevor es die Regierung ermächtigt, die Schrauben noch fester anzuziehen. Wir befinden uns in einer nie dagewesenen Situation. ... Aber sogar jetzt - nein, gerade jetzt - müssen wir auf den Rechtsstaat achten. Die Corona-Krise ist kein Blankoscheck für die Premierministerin.“
Abgeordnete zum Däumchendrehen verurteilt
Der Abgeordnete Lauri Läänemets von der oppositionellen sozialdemokratischen Partei SDE kritisiert im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ERR, dass das Parlament im Ausnahmezustand seine Pflichten nicht erfüllen kann:
„Fehlt die Kontrolle, verschwindet auch die Pflicht der Begründung. Das Parlament hat keine Übersicht darüber, was die Regierung tut. Ohne Information können Abgeordnete nicht einschätzen, ob die Maßnahmen angemessen sind. ... Das Parlament muss nun dringend die Arbeit wieder aufnehmen und die Regierung unterstützen. Dafür müssen wir eine Lösung finden, wie E-Sitzungen abgehalten werden können, denn die Krise kann ein halbes Jahr oder länger andauern. Es ist unerträglich, dass das Parlament gelähmt ist, während die Abgeordneten in der Quarantäne eigentlich ihre Pflicht erfüllen könnten.“
AKP hat Kontakt zur Bevölkerung vollends verloren
Während die Corona-Krise in der Türkei außer Kontrolle gerät, scheint die AKP-Regierung so weiter zu machen wie bisher, klagt Birgün:
„Millionen von Menschen sind mit Einkommensverlusten und dem Risiko von Arbeitslosigkeit konfrontiert, weil die Unternehmen wegen der Epidemie geschlossen wurden. ... Während die Öffentlichkeit versucht, die Epidemie mit eigenen Mitteln und Solidaritätsnetzwerken zu bekämpfen, ist der Staat damit beschäftigt, weitere Zwangsverwalter für von der HDP regierte Gemeinden zu ernennen, kurdische Politiker zu verhaften, die Ausschreibung für den Kanal Istanbul zu organisieren, Strafen für Sexualverbrechen zu reduzieren und neue Ressourcen zur Unterstützung von regierungsnahen Stiftungen bereitzustellen. Die Kluft zwischen der AKP und der Realität der Menschen war noch nie so tief.“
Niederlande: Das Anti-China
Die Niederlande haben die Corona-Maßnahmen verschärft, setzen aber auf Mitarbeit der Bürger und nicht auf Repression, lobt der Kolumnist des NRC Handelsblad, Tom-Jan Meeus:
„Unsere Politiker sind Anreger. Sie wollen gutes Verhalten stimulieren und damit falsches Verhalten bekämpfen. ... Überall auf der Welt ist die Corona-Krise für Regierungschefs ein Alibi für autoritäre Führung und Unterdrückung nach chinesischem Vorbild. ... Die Niederlande sind das Anti-China der Corona-Krise. Warum auch nicht. Wenn dieses Ländchen mit seiner strengen Arbeitsmoral und hoher Arbeitsproduktivität dem Rest der Welt zeigen kann, dass man diese Krise auch ohne diktatoriale Züge bekämpfen kann, dann ist das in diesen Zeiten kein Nachteil. “
Jeder hat es selbst in der Hand
Den Bürgern kommt derzeit eine maßgebliche Rolle zu, betont Helsingin Sanomat:
„Die Ankündigung der Ministerien, eventuell weitere Restriktionen zu implementieren, kann auch als Aufforderung an die Bürger interpretiert werden. Die zentrale Botschaft ist, dass die Finnen sich freiwillig und selbstständig dazu entschließen müssen, weniger unterwegs zu sein. Falls das nicht passiert, muss vielleicht zu Restriktionen gegriffen werden. … Das bedeutet aber nicht, dass die Macht in einer Hand liegt. Die Macht zur Ausbreitung des Virus ist sehr dezentralisiert, jeder Finne hat diese Macht. Maßgeblich sind die eigenen Entscheidungen, und diese muss man schon lange vor den Vorschriften der Behörden oder Politiker treffen können - oder sogar ganz ohne diese.“
Warum Peking kein Vorbild ist
Gegen diejenigen, die angesichts des Umgangs mit dem Coronavirus das autoritäre System Chinas loben, richtet sich eldiario.es:
„Schluss mit dem ständigen Wiederholen, das chinesische Kontrollsystem sei effizienter, um Covid-19 zu stoppen. Zunächst hat es das Regime, das Trinken unter der Woche, falsches Überqueren der Straße oder Koran-Lesen bestraft, vergessen, die Märkte mit exotischen Wildtieren zu schließen - trotz der Erfahrungen mit dem Influenza-A-Virus und Sars. ... Die Effizienz des Totalitarismus hat, wenn es sie überhaupt gibt, niemals den Schutz der Bürger im Sinn, sondern das Überleben des Regimes.“
Medien und Bürger müssen auf der Hut sein
Die riesige Informationsflut täuscht, warnt der PR-Experte Bartolo Lampret in seinem Kommentar in Večer:
„Wir haben keine Ahnung, was sonst geschieht, denn die Mehrheit der Nachrichten ist mit dem Coronavirus verbunden. Daran sind nicht unsere Medien schuld. Auch im Rest der EU ist das so. Alle erhalten die Informationen von denselben drei Nachrichtenagenturen. Die Demokratie wird eingeschränkt, die Bevölkerung verarmt und ein harter Neoliberalismus wird eingeführt. Deshalb ist es jetzt äußerst wichtig ruhig zu bleiben, rational zu denken und nicht jedem Beitrag in den sozialen Netzwerken zu glauben. … Medien sind heute noch wichtiger als sonst. Jetzt, wo all unsere Gedanken der Pandemie gewidmet sind, ist ihre Aufgabe, die Regierenden zu kontrollieren, umso wichtiger.“