Virale Verwerfungen in der Geopolitik
Die Corona-Krise erschüttert auch die internationale Politik. Konfliktparteien sehen sich plötzlich der gleichen Bedrohung ausgesetzt, etablierte Bündnisse werden in Frage gestellt. Journalisten überlegen, welche Umwälzungen über die Pandemie hinaus Bestand haben könnten.
Das Kriegsgeschrei verstummt
Radio Kommersant FM konstatiert ein gewisses Erlahmen der Konflikte in Syrien, Gaza und dem Donbass - und schöpft daraus Hoffnung:
„Man hat jetzt einen gemeinsamen Feind, zu dessen Bekämpfung man mit dem langjährigen Gegner kooperieren muss. ... Deshalb wird die ganze kriegerische Rhetorik, die bisher als Zement für die Gesellschaften diente und Wahlen entschied, faktisch auf null zurückgefahren. Die Idee, Dinge gewaltsam zu entscheiden, kommt sicher zurück, wenn die Seuche besiegt sein sollte. Aber es besteht Hoffnung, dass die einfachen Leute ihren Anführern dann klar machen, dass es zur Verteidigung nationaler Interessen nicht Panzer und Raketen braucht, sondern Medizin und Wissenschaft. Und dass bei Manövern nicht das Erobern fremder Gebiete geübt werden sollte, sondern das schnelle Errichten von Feldlazaretten.“
Wo waren unsere Freunde in der Not?
Wer wem in der Krise geholfen hat, könnte für die geopolitischen Entwicklungen noch eine große Rolle spielen, glaubt USA-Korrespondent Massimo Gaggi in Corriere della Sera:
„Die Hilfe kam per Flugzeug aus China, Russland und sogar Kuba. Kaum aus den USA und der EU. … Wenn all dies vorbei ist, wird es viel wieder aufzubauen geben: die Wirtschaft, die Einrichtungen des Gesundheitswesens, die internationalen Beziehungen, das Vertrauen zwischen den Völkern. Heute dominieren Ressentiments, vor allem gegenüber verbündeten Ländern und Freunden, von denen wir in der dramatischsten Stunde etwas mehr erwartet hätten. Doch es geschah nur sehr wenig - wohl nicht zuletzt deshalb, weil es sich um eine planetarische Krise handelt, die nun die Vereinigten Staaten selbst zu überwältigen droht.“