Homeoffice: Segen oder Fluch?
Im Jahr 2018 haben nur 15 Prozent der Beschäftigten in der EU von zu Hause aus gearbeitet. Die Zahlen dürften im Zuge der Corona-Pandemie gestiegen sein. Kommentatoren beschreiben, was die Herausforderungen beim Arbeiten in den eigenen vier Wänden sind.
Umverteilung zugunsten der Arbeitgeber
Das Arbeiten von zu Hause bringt neben einer Vermischung von Beruf und Privatem auch finanzielle Nachteile, warnt Der Standard:
„Arbeitgeber sparen eine Menge Geld: Mietkosten, Reinigungskosten, allerlei Material, um die Belegschaft bei Laune zu halten, vom Kaffee bis zum Obstkorb. ... Was da gerade als pure Wohltat gegenüber Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in die Welt gesetzt wird, muss genauer angesehen werden. ... Hier geht es um die stille Umverteilung der Infrastrukturkosten der Arbeit auf die Arbeitenden und somit um kalte Reduktion der Entlohnung. ... De facto entwertet Homeoffice Arbeit. Und zwar für die Arbeitenden. ... Sie zahlen die Miete der Wohnung, die nun das Büro ist. Sie zahlen Infrastrukturkosten, Strom, ein besseres Netz. Und auch die Benefits (bleiben wir nur beim Kaffee), die eigentlich Teil der Entlohnung sind.“
Von Ergonomie bis Wir-Gefühl: Was zu Hause fehlt
Auch Kaleva lenkt den Blick auf die Probleme, die das Homeoffice mit sich bringt:
„Der schnelle Umstieg auf die Telearbeit und Meetings mit Web-Tools ist überraschend reibungslos verlaufen. Mit aller Wahrscheinlichkeit wird die Telearbeit auch nach der Coronakrise vollständig oder teilweise fortgesetzt werden. … Doch dieser Erfolg darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Arbeit mitunter unter schwierigen Bedingungen geleistet wird. Nicht alle haben die Möglichkeit, an einem ruhigen und ergonomisch optimalen Platz zu arbeiten. … Was Wohlergehen und Produktivität betrifft, muss auch auf die soziale Bedeutung der Arbeitsgemeinschaft und die Kreativität, die diese Interaktion schafft, hingewiesen werden.“
Flucht aus dem Privatleben nicht mehr möglich
Mehr als ein Monat häusliche Isolation ist für viele Workaholics wohl eine Offenbarung, glaubt Neatkarīgā:
„Jetzt ist der Moment, in dem viele Menschen erfahren, wie ihre Familie wirklich ist. ... Der übliche Alltag, in dem viele mehr Zeit mit den Arbeitskollegen als mit ihren Kindern und der Familie verbrachten, ist vorbei. Jetzt stellen viele fest, dass ihr Privatleben tatsächlich existiert, wo man doch vorher so erfolgreich daraus geflohen ist. Und dieses Privatleben ist eben nicht so einfach. In allen Zeiten, unter allen Herrschern war die Arbeit ein Vorwand, um aus dem Privatleben zu flüchten. Viele Künstler, Ingenieure, Banker, Unternehmer, Fahrer und ungelernte Arbeiter taten es so - sie versteckten sich auf der Arbeit.“
Virus darf Büros nicht abschaffen
Nach fünf Wochen im Homeoffice stellt der Journalist Gunnar Jonsson von Dagens Nyheter fest, wie sehr ihm die soziale Umgebung fehlt:
„Ein Leitartikler kann nicht immer zwischen Arbeit und Freizeit unterscheiden, Nachrichten ploppen den ganzen Tag auf. Trotzdem denke ich, dass der Job zur Arbeit gehört, während Zuhause das Zuhause sein sollte. Die Gruppe, die anderen Redakteure - es geht nicht ohne. ... Elektronische Foren haben ihre Grenzen, und ich habe genug Videokonferenzen erlebt, um zu wissen, dass IRL [in real life - im wirklichen Leben] diesen überlegen ist. Ein paar Meter zum Kollegen oder Vorgesetzten zu gehen, ist so viel bequemer. Wir müssen uns anpassen. Die Digitalisierung bietet viele Möglichkeiten. Aber ich hoffe aufrichtig, dass das Coronavirus nicht mein Büro tötet. Weil ich es vermisse.“
Arbeit könnte das Leben dominieren
Die Bedeutung von Arbeit wird sich durch die Corona-Krise verändern, glaubt Protagon:
„Sicher ist, dass die Pandemie das Tempo der Menschheit in Richtung einer Lebensweise, in der alles oder fast alles von zu Hause aus erledigt wird, sehr beschleunigt hat. Der 5G-Standard wird diesen Trend verstärken und in vielen Berufen verfestigen. Das Konzept der 'Arbeit' wird sich ebenso ändern wie das Konzept der freien und persönlichen Zeit auf einem Planeten mit einer saubereren Atmosphäre. Und die Schlüsselfrage wird sein: Wenn man von zu Hause aus arbeitet, wird man es sich schließlich erlauben, dass das ganze Leben von Arbeit dominiert wird?“
Schluss mit stundenlangem Pendeln
Arbeiten und Lernen von daheim hat viele Vorteile, erklärt Irish Examiner:
„Es bedeutet, dass mehr Menschen in Regionen mit niedrigeren Lebenshaltungskosten leben können, was dazu beitragen kann, das Blatt in der Immobilienkrise zu wenden. ... Und die tägliche, mehrstündige Pendelei, dieser moderne Fluch, könnte zumindest für einige Arbeitende Geschichte werden. Das würde unsere Abhängigkeit vom Öl verringern, was nur begrüßt werden kann, da sich unsere Welt in einem nicht nachhaltigen Ausmaß erwärmt. Das Lernen zu Hause könnte dazu beitragen, die Überbesiedelung von Universitätsstädten zu verlangsamen, in denen Wohnheime ständig ausgebaut werden. Es würde zudem mehr Menschen ein Hochschulstudium ermöglichen - und dabei geht es nicht nur um akademische Leistungen.“
Schöne Titel und volle Kalender zählen nicht mehr
Die Zeit im Homeoffice holt so manchen Beschäftigten zurück auf den Boden, glaubt Tygodnik Powszeczny:
„So viele Jahre des Sammelns: akademische Titel, Verkaufsergebnisse, Kreditkarten, Publikationslisten; weiße Hemden und Wollblazer in unseren Kleiderschränken, Terminkalender, schmeichelhaft voll mit Meetings und Seminaren. ... Viele von uns sind tief mit den Rollen verbunden, die sie spielen. Viele von uns erfüllen diese Rollen theoretisch immer noch, niemand nimmt uns die akademischen Titel oder die erfolgreichen Lebensläufe weg. Aber trotzdem, wenn man in den vom Hund zerbissenen Pantoffeln im alten Sessel sitzt und die Frau schreit, dass man Milch kaufen gehen soll, erodieren diese Rollen ein wenig. Das zeigt, wie kurzlebig unsere Errungenschaften und Leistungen sind.“