Charterflüge für Erntehelfer werfen Fragen auf
Europaweit fehlen wegen der Corona-Maßnahmen Hunderttausende Erntehelfer aus dem Ausland. In Deutschland landeten vergangene Woche trotzdem Flieger mit Saisonarbeitern - mit Sondergenehmigung. Für Negativ-Schlagzeilen sorgten Bilder aus der rumänischen Stadt Cluj, wo am 9. April rund 2.000 Passagiere dicht gedrängt vor dem Flughafen warten mussten. Läuft in der Landwirtschaft etwas grundsätzlich falsch?
Sie kommen aus purer Verzweiflung
Das Erkrankungsrisiko ist für viele Saisonarbeiter das kleinere Problem, schreibt Webcafé:
„Die Arbeitgeber sind für die ersten 115 Tage nach der Einstellung der Gastarbeiter, also quasi für ihren gesamten Arbeitsaufenthalt, nicht verpflichtet, sie in der Krankenkasse zu versichern. Wenn ein Arbeiter sich also verletzt oder am Coronavirus erkrankt, hat er keinen kostenlosen Zugang zum deutschen Gesundheitssystem. … Wer ist bereit, sich einem solchen Risiko auszusetzen? … Die Antwort ist, dass sich immer noch Zehntausende Freiwillige auf den Weg machen, auf der Suche nach Arbeit. Bevor sie, vor dem Hintergrund der drohenden Wirtschaftskrise, ihr gesamtes Einkommen verlieren, bevorzugen viele das Risiko, sich im Ausland anzustecken vor dem sicheren Hunger zu Hause.“
Das Infektionsrisiko ist nicht zu rechtfertigen
Dass tausende Erntehelfer eingeflogen werden, damit die Deutschen auch dieses Jahr ihren Spargel bekommen, findet die taz menschenverachtend:
„Das gefährdet die Gesundheit zahlreicher Menschen: der ArbeiterInnen selbst, aber auch zum Beispiel der Beschäftigten an den Flughäfen und der Flugzeugbesatzungen. Das Bundesinnenministerium hatte aus gutem Grund zunächst verboten, dass wie in normalen Jahren ungefähr 300.000 Saisonarbeitskräfte einreisen. Schließlich ist bei dieser hohen Zahl die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass sie das Virus weiter verbreiten. ... Dieses hohe Infektionsrisiko lässt sich nicht rechtfertigen – schon gar nicht mit dem Ziel, dass die Deutschen auch dieses Jahr möglichst wenig für Spargel bezahlen müssen. Denn: Spargel ist ein Luxusgemüse, das niemand zur Ernährung braucht.“
Ein Zeichen für die Schieflage des Systems
Der Streit um rumänische Spargelstecher ist Vorbote einer globalen Landwirtschaftskrise, meint Hürriyet Daily News:
„Man muss wissen, dass rund um den Globus die meisten Pflanzen, insbesondere diejenigen, die nicht von Robotern geerntet werden können, sondern Handarbeit erfordern, von 'Gast'-Saisonarbeitern gepflückt werden. Die Praxis reicht von freiwilliger Erntehilfe mit gut organisierten Einrichtungen und Arbeitsbedingungen bis hin zu regelrechter Zwangsarbeit, insbesondere bei illegalen afrikanischen Flüchtlingen in Süditalien, die Orangen oder Tomaten pflücken. ... Für die Spargelstecher haben die deutschen Behörden dieses Jahr ihr Okay gegeben, alles in Ordnung! Wirklich? Ihre Spargel-Liebe hat uns die Schieflage des System gezeigt. Solange wir essen müssen, müssen wir unser landwirtschaftliches System überdenken.“
Angst vor Armut ist stärker
Zu schimpfen, dass die Flieger in Richtung Deutschland nicht hätten starten dürfen, zeugt von Dummheit, meint das Nachrichtenportal Ziare:
„Man kann die Leute nicht aufhalten, zumindest nicht länger, als der Notstand dauert. Wenn sie jetzt nicht gehen, gehen sie im nächsten Monat oder später - wenn es nicht etwas gibt, das sehr viel wirksamer wäre als ein Verbot: nämlich eine Perspektive. … Schon jetzt nimmt in Bukarest der Verkehr auf den Straßen wieder zu, es gibt erneut Staus. Die Leute haben sich an die Angst vor einer Infektion gewöhnt. Die Angst vor Armut und wirtschaftlichem Kollaps ist sehr viel akuter und stärker. Sie ist es auch, die die Flieger füllt, die in Cluj gestartet sind und noch starten werden.“
Arbeit vor der eigenen Haustür finden
Rumänien sollte die Menschen für die heimische Landwirtschaft begeistern, meint Moise Guran auf seinem Blog moise.ro:
„Wie viele sind von Cluj oder Iasi nach Deutschland geflogen? 2.000? 5.000? Es sind doch immer noch Hunderttausende im Land, vor allem auf den Dörfern - jetzt, wo die Aktivitäten in der Landwirtschaft ihren Höhepunkt haben sollten. Die Arbeit auf dem Feld ist nicht verboten. Die Nachfrage nach Lebensmitteln steigt angesichts der grenzüberschreitenden Einschränkungen. Lasst uns die Leute halten! Es ist nicht zu spät! Es sind praktisch alle Bedingungen für unsere Landsleute erfüllt, damit sie bleiben, damit sie Arbeit neben ihrem Haus finden, und sich nicht [im Gedränge am Flughafen] Todesangst aussetzen müssen, um erneut in den Westen zu kommen.“
Jetzt Kleinerzeuger stärken
Als einmalige Chance, in der Agrarwirtschaft komplett umzudenken, sieht auch Magyar Hang die Corona-Krise:
„Wenn nun ein Strom arbeitsloser Kellner in Richtung Felder und Gewächshäuser einsetzt, wird es auch hierzulande wohl bald so aussehen wie in Frankreich. Dort betteln die Bauern bereits darum, dass keine Modeverkäufer mehr auf die Erdbeerfelder kommen, weil diese von der Ernte einfach nichts verstünden. Außerdem würden die Bauern die Arbeitskräfte nicht nur für die Zeit der Quarantäne, sondern langfristig brauchen. Und das ist der entscheidende Punkt, wo das Coronavirus Veränderungen anstoßen sollte. Man könnte jetzt die Umstellung schaffen, von im großen Maßstab produzierten und oft genmanipulierten Lebensmitteln auf die Produkte kleiner Erzeuger. Dann müssten die Produkte und Erntearbeiter auch nicht mehr um die Welt reisen.“