Merkel in Brüssel: Gemeinschaft wörtlich nehmen
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat am Mittwoch im Europaparlament die Prioritäten der deutschen Ratspräsidentschaft vorgestellt. Sie betonte zuvorderst die Bedeutung von Menschen- und Bürgerrechten und drängte die Mitgliedstaaten zu Kompromissbereitschaft bei den Verhandlungen zum Aufbaufonds. Kommentatoren fragen sich, ob den Worten auch Taten folgen und ob diese im Interesse ihrer jeweiligen Länder sind.
Orbán die Leviten gelesen
Merkel erhielt zu Recht stehenden Applaus für ihr leidenschaftliches Plädoyer, bekräftigt tagesschau.de:
„Härter hätte die Rote Karte Merkels an Viktor Orbán und seine Gesinnungsfreunde in Polen und Tschechien nicht ausfallen können. Ohne den ungarischen Premier beim Namen zu nennen, der sich während der Corona-Pandemie vom Parlament in Budapest mit dem Sonderrecht ausstatten ließ, per Verordnung zu regieren, las die deutsche Kanzlerin Orbán die Leviten. Wer geglaubt hatte, Merkel werde um das Thema Rechtsstaatlichkeit einen großen Bogen machen, um die Zustimmung der osteuropäischen Länder zum Corona-Wiederaufbaufonds nicht zu gefährden, der sah sich getäuscht.“
Nicht nur fordern
In Sachen Rechtsstaatlichkeit darf Merkel keine Kompromisse zulassen, mahnt die Süddeutsche Zeitung:
„So werden kommende Woche die 27 Staats- und Regierungschefs bei einem Gipfel in Brüssel über das Corona-Hilfspaket und den Haushalt der EU verhandeln. Die EU-Kommission schlägt vor, Auszahlungen künftig davon abhängig zu machen, dass in den Empfängerländern der Rechtsstaat funktioniert. Das würde heilsamen Druck auf Warschau und Budapest ausüben. Doch ist die Gefahr groß, dass diese Klausel am Widerstand osteuropäischer Regierungen scheitert. Merkel muss für diese Rechtsstaat-Vorgabe kämpfen - damit es nicht allein bei hehren Worten bleibt.“
Heikler Plan
La Stampa beschäftigt weniger die Rede selbst, als der Vorschlag der Kanzlerin, wie eine Einigung beim Corona-Wiederaufbaufonds erreicht werden soll:
„Die Karte, die Angela Merkel auszuspielen beschlossen hat, um die sparsamen Länder davon zu überzeugen, den Recovery Fund zu akzeptieren, ist unter dem Kapitel 'Governance' zu finden. Es ist simpel: Berlin will der Kommission die Befugnis entziehen, die verschiedenen nationalen Wiederaufbaupläne zu genehmigen, und sie dem EU-Rat, d.h. den Regierungen, übertragen. Diese würden - mit qualifizierter Mehrheit - entscheiden, ob die Reformen und Investitionen einzelner Länder mit den Prioritäten der EU in Einklang stehen. Eine Lösung, die den Nordländern gefällt, die aber sicherlich nicht in die von der italienischen Regierung gewünschte Richtung geht.“
Eine starke Präsidentschaft
Europa hat Glück, dass gerade Deutschland jetzt die Ratspräsidentschaft übernimmt, urteilt Postimees:
„Das gibt Hoffnung, dass alle Mitgliedsstaaten den Kopf wieder über Wasser bekommen. Dass Wirtschaft und Sozialsysteme sich von den Folgen der Corona-Krise erholen, ist Deutschlands Priorität. Eigentlich hat Berlin [mit seiner Führungsrolle] schon früher begonnen, und so ist die Übereinkunft über ein Wiederaufbau-Paket trotz anfänglicher Meinungsverschiedenheiten zustande gekommen. ... Eine der Reformen, die am meisten die Gemüter erhitzen dürfte, ist eine Änderung der Asylsysteme. Um eine Migrationskrise wie 2015 zu vermeiden, ist eine Umkehr geplant. ... Insgesamt sind die Pläne Deutschlands in Estlands Interesse, was aber keine automatische Zustimmung zu jedem Punkt bedeutet.“