Vorwürfe, Proteste und Gewalt nach Wahl in Belarus
Amtsinhaber Lukaschenko soll die Präsidentschaftswahl in Belarus mit 80,2 Prozent der Stimmen gewonnen haben. Doch wegen Manipulationsanzeichen akzeptiert Oppositionskandidatin Tichanowskaja (offiziell 9,9%) das Ergebnis nicht. Auf die folgenden Massenproteste reagierten die Sicherheitskräfte teilweise mit Gewalt. Europas Presse analysiert die Lage und erörtert, wie die internationale Gemeinschaft nun reagieren soll.
Ein Präsident ohne Rückhalt
Irina Khalip, Belarus-Korrespondentin von Nowaja Gaseta, zeichnet das Bild eines völligen Vertrauensverlusts Lukaschenkos beim Volk:
„So oft Lukaschenko Tichanowskaja und ihren Stab auch 'vom Ausland gelenkte Schafe' nennt, so oft er beteuert, das Internet in Belarus würde von internationalen Konzernen blockiert und Demonstranten wollten Verwaltungsgebäude stürmen - es glaubt ihm niemand mehr. Seine Niederlage, Feigheit, Hysterie und völlige Unfähigkeit, sich in der heutigen Welt zurechtzufinden hat er nun aller Welt bewiesen. … Am Dienstag könnten sich dem BMZ [einem seit Montag partiell bestreikten Metallurgiekonzern] weitere Fabriken anschließen. Und Streiks gab es in Belarus seit Anfang der 1990er Jahre nicht mehr. Die Lage ändert sich ständig - und offenbar braucht es dazu nicht mal Internet.“
Internet gegen Autokrat
Der ewige Machthaber hat die Meinungsführerschaft an Blogger verloren, meint Die Presse:
„In Belarus wurde die Coronakrise zum Kulminationspunkt. So viele Bürger wie noch nie nutzten nicht staatliche Informationsquellen, weil diese die Lage nicht schönredeten, sondern glaubwürdig informierten. ... Es ist dieser Kontext, in dem aus Bloggern respektierte Persönlichkeiten werden. Und in denen ein durch das Land fahrender Videoblogger namens Sergej Tichanowskij sich anschickte, Präsidentschaftskandidat zu werden. Was passierte, ist bekannt: Er sitzt im Gefängnis, seine Frau, Swetlana, wurde zur unerwarteten Ikone einer Bürgerbewegung. In den Tagen vor der Wahl mobilisierten sie und ihr Team Tausende Menschen über Twitter-Botschaften. Lukaschenko mag weiter der Herrscher von Belarus bleiben. Die Meinungsführerschaft aber hat er verloren.“
Lukaschenko hätte wohl auch demokratisch gesiegt
Die Protestbilder aus Minsk sind nicht repräsentativ für das ganze Land, so Delo:
„Die Struktur der belarusischen Bevölkerung ist immer noch so, dass Lukaschenko wahrscheinlich selbst bei fairen Wahlen gewonnen hätte. Die Landbevölkerung und die Provinz sind auf seiner Seite, ihm widersetzen sich junge Menschen, die gebildet sind und Kontakte zum Ausland haben. Doch deren Zahl reicht nicht aus, um eine kritische Masse aufzubauen. Deshalb sind die frommen Wünsche der bei der Wahl gescheiterten Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja, die glaubt, dass das Volk Lukaschenko nicht mehr will und schon bald Veränderungen erreichen wird, voreilig.“
Westen leidet unter dem Stockholm-Syndrom
Eesti Päevaleht lamentiert über die vorsichtigen Reaktionen der europäischen Nachbarn:
„Der Westen weiß nicht, wie man mit dem 'letzten Diktator Europas' umgehen soll. ... Mal lächelt er Richtung Westen und lässt sogar (!) die politischen Gefangenen frei. Dann flirtet 'Väterchen' wieder mit Moskau und gibt Grund zur Vorsicht. ... Es hat auch bessere Zeiten gegeben. Belarus ist Teil der östlichen Partnerschaft der EU. Es gab die Hoffnung, dass deren 'soft power' zumindest einen Korridor von Staaten schafft, die zur Demokratie streben. Dies hätte eine Beitrittsperspektive beinhalten sollen, wozu es aber am politischen Willen fehlte. Noch vor fünf Jahren wurden 'Menschenrechte' bei Gesprächen als erstes Stichwort erwähnt, in letzter Zeit hat man aber Angst, dass zu viel Betonung auf westliche Werte Minsk in den Schoß des Kremls treibt. Symptome des Stockholm-Syndroms.“
Balanceakt für die EU
Europa muss nun taktisch klug vorgehen, fordert Tageszeitung Die Welt:
„Sie muss sich einerseits klar an die Seite der Demonstranten stellen ... . Gleichzeitig ist es nicht im geostrategischen Interesse der EU, Lukaschenko in die Arme Moskaus zu treiben und die staatliche Souveränität des Landes zu gefährden. Um beides zu erreichen – Öffnung und Erhalt der Eigenständigkeit Weißrusslands –, braucht es eine kluge Mischung aus Abschreckung und Anreizen. Einerseits muss die EU mit Sanktionen und Einfrieren von Auslandsguthaben gegen hochrangige Offizielle in Weißrussland drohen, die sich an der Niederschlagung der Proteste beteiligen, einschließlich Lukaschenko und seiner Familie. Andererseits muss Europa dem Land einen Entwicklungspfad anbieten samt finanzieller Anreize, wenn es sich öffnet zu mehr Freiheit und Demokratie.“
Jetzt oder nie
Kommentatorin Jagienka Wilczak beschreibt in Polityka Tage der Entscheidung:
„Eines ist sicher: In Belarus hat es noch nie einen solchen Schritt gegeben, eine solche Mobilisierung der Gesellschaft. Ich glaube nicht, dass irgendjemand denkt, Lukaschenko habe einen demokratischen und fairen Kampf gewonnen. Ich denke, dass heute in Minsk das belarussische Schicksal entschieden wird. Werden die Menschen durchhalten? Wollen sie wirklich diese Veränderungen erreichen? Ohne Blutvergießen, aber mit Durchhaltevermögen und Solidarität? Falls das nicht passiert, bleiben sie dazu verdammt, bis zum Ende der Welt und noch länger von Lukaschenko regiert zu werden.“
Zur Not muss Lukaschenko nur "Maidan" sagen
Sme überlegt, wie eng es für Lukaschenko werden könnte:
„Belarus ist eines der Länder, die Berichterstatter mögen, weil sie vor einer Wahl nicht zwei Artikel-Versionen, eine für jeden möglichen Gewinner, vorbereiten müssen. Nein, in Belarus ist seit einem Vierteljahrhundert alles klar, man weiß, Alexander Lukaschenko wird gewinnen. … Gut möglich, dass der Ärger junger Bürger kritische Werte erreicht hat und Lukaschenko größeren und unangenehmeren Protesten ausgesetzt sein wird. Aber notfalls kann Lukaschenko immer noch das Zauberwort der Maidanisierung benutzen und die Bevölkerung mit der Frage konfrontieren, ob sie sich wirklich so viel Freiheit wünscht.“
Allein Gewalt kann ihn an der Macht halten
Ohne Russland sind Lukaschenkos Tage gezählt, glaubt Publizist Iwan Jakowyna in nv.ua:
„Anstatt der Opposition Verhandlungen anzubieten, forderte er die Bevölkerung auf, sich auf das 'Gemetzel' auf den Straßen der Stadt vorzubereiten und versprach, so hart wie möglich zu handeln. Lukaschenko hat sich also entschieden, für seinen Machterhalt Gewalt einzusetzen. … Am wahrscheinlichsten ist es, dass er in dieser Situation den Sicherheitskräften den Befehl geben wird, auf das Volk zu schießen, gezielt. … Und sehr wahrscheinlich werden sich diese weigern, diesen Befehl auszuführen - und dann wird das Regime noch am gleichen Tag fallen. Sollten sie aber doch schießen, wird das Regime noch einige Zeit überleben, aber kaum mehr als einige Monate. … In diesem Fall kann Lukaschenko nur durch Einmischung von außen gerettet werden. Zum Beispiel von Russland.“
Russlands Argusaugen
Belarus wird immer mehr zu einer Belastung für den Kreml, stellt Svenska Dagbladet fest:
„Unabhängig davon, was jetzt passiert, wird die Entwicklung zu Reaktionen in Moskau führen. … Gut möglich, dass Lukaschenko, wenn er spürt, dass er keine Kontrolle mehr über die Entwicklung hat, dem Traum Moskaus nachgeben wird: der völligen Einheit von Belarus und Russland - obwohl er während des Wahlkampfs mit deutlich antirussischen Kommentaren aufgefallen ist.“