Belarus: Ist die EU zu vorsichtig gegenüber Putin?
Nach inzwischen wochenlangen Protesten nach der Wahl in Belarus hat Aljaksandr Lukaschenka Russland um Hilfe gebeten, das laut Putin nun eine Reservetruppe für das Nachbarland eingerichtet hat. Kommentatoren befürchten eine russische Invasion und fordern von der EU ein entschiedeneres Eintreten für die belarusische Opposition und gegen den Einfluss des Kremls.
Ein Land darf niemandem gehören außer dem Volk
Mit der Ankündigung, eine Reservetruppe der Polizei für das Nachbarland einzurichten, hat Putin sich erstmals zur Situation in Belarus geäußert. Europa darf das Land jetzt nicht im Stich lassen, mahnt La Stampa:
„Einer angekündigten Invasion tatenlos zuzusehen, bedeutet, sich mit einer wahrscheinlichen Annexion abzufinden. ... Wenn Tichanowskaya im Europäischen Parlament erklärt, dass es sich weder um einen antirussischen noch um einen proeuropäischen Protest handele, sagt sie dies, um Putin nicht zu verärgern und die Europäer, die ihn nicht herausfordern wollen, nicht zu verängstigen. Aber ein Land darf niemandem gehören, außer seinem Volk. Und wenn dieses Volk mehr Demokratie will, kann Europa ihm nicht den Rücken kehren, es sei denn, es gibt auf, Europa zu sein.“
Belarus liegt im Herzen Europas
Die Politikwissenschaftlerin Carmen Claudín spekuliert in El País darüber, ob Lukaschenkas Hilferuf an Putin zu einer Invasion führt und was die Europäische Union dann zu tun hätte:
„Muss Russland in Belarus überhaupt einmarschieren, wo es doch schon zum Land gehört? Der Kreml subventioniert die belarusische Wirtschaft seit Jahren und kontrolliert sie damit. ... Auch sonst ist der russische Einfluss groß, durch die Sprache, die Medien und die Bedeutung der sowjetischen Mentalität generell. ... Die Europäische Union hat derzeit wenig Handlungsspielraum, abgesehen von gezielten Sanktionen und Unterstützung von Zivilgesellschaft und Opposition. Aber Moskau geht davon aus, dass Europa nichts mitzureden hat und das darf Brüssel weder hinnehmen noch erlauben, schon gar nicht, weil es um ein Land im Herzen des europäischen Kontinents geht.“
Falsche 'Russia first'-Politik
Petras Vaitiekūnas, ehemaliger litauischer Botschafter in der Ukraine und Belarus, kritisiert auf Lrytas den Vorrang russischer Interessen in der westlichen Außenpolitik:
„Das ist eine falsche Sicht, aber dieses mangelhafte Paradigma 'Russia first' dominiert Europa und den Westen nun seit drei Jahrzehnten, seit dem Zerbrechen der UdSSR. Und die Folgen sind spürbar: Russlands Krieg in der Ukraine und mit Gewalt geänderte Grenzverläufe, von Georgien und Moldau abgerissene Territorien - Russland kennt keine Grenzen mehr. Sollte Russland in Belarus gewinnen, wird das Imperium weiter expandieren. Sollten aber die Ukraine und Belarus einen Erfolg erzielen, bedeutet das einen Zusammenbruch der größenwahnsinnigen 'Russkij Mir'-Idee ['Russische Welt': ein Kulturkonzept, das in seiner ideologisierten Form auch zur Legitimierung des russischen Einflusses im postsowjetischen Raum eingesetzt wird] und des Putin-Regimes - und damit auch den ersten Schritt Russlands in Richtung Demokratie.“
Zurückhaltung ist verantwortungsvoll
Die EU muss mit der Situation in Belarus vorsichtig umgehen, mahnt Magyar Hírlap:
„Wir erinnern uns wohl noch daran, wie 2014 im Europäischen Parlament die Helden vom Maidan gefeiert wurden. Man wollte nur das Schöne sehen. ... In der Zwischenzeit stiegen die weniger sympathischen, nationalistischen politischen Kräfte auf, die Hälfte des Landes versank im Krieg, es folgten Chaos und wirtschaftlicher Einbruch. ... Es prallen viele unterschiedliche geopolitische Interessen aufeinander. Der gemeinsame Punkt sollte das Streben nach Stabilität sein. Die EU darf keinesfalls unverantwortlich und auf der Grundlage der Interessen einzelner Akteure handeln. “
Moskau muss beruhigt werden
Jaques Schuster, Chefkommentator der Tageszeitung Die Welt, hält es für wichtig, dass die EU Russlands Präsident Putin die Sorgen vor einem westorientierten Belarus nimmt:
„Es ist an der Zeit, dass Europa seinen 'Außenminister' Josep Borrell oder einen Sondergesandten nach Moskau schickt. Dieser sollte im Gespräch mit dem Kreml der russischen Regierung versichern, dass die Europäische Union den geostrategischen Interessenraum Moskaus anerkennt und sie ein demokratisches Weißrussland nicht ins westliche Bündnisgeflecht aufnehmen würde. Vielmehr sollte einem freien und demokratischen Weißrussland der Status zuerkannt werden, den Finnland im Kalten Krieg besaß: frei im Inneren, gebunden aber an eine außenpolitische Neutralität.“
Ohne Putin geht nichts
Auch NRC Handelsblad betont die nicht zu übergehende Rolle Moskaus:
„Erneut zeigt sich das klassische Bild der EU als bellender Hund, der nicht beißen kann und will. ... Was das betrifft, hat Europa von der Ukraine gelernt. Das begeisterte Umarmen der EU und der Wunsch eines Teils des Landes, die gewonnene Unabhängigkeit von der Sowjetunion mit einer EU-Mitgliedschaft zu besiegeln, hatten damals den entgegengesetzten Effekt. ... Veränderungen im Land können schließlich nicht ohne Zustimmung des Kremls geschehen. Wenn die Europäische Union wirklich Veränderungen in Belarus sehen will, werden die EU-Führer zuerst den russischen Präsidenten Putin ansprechen müssen.“
Vor der eigenen Tür liegt zu viel Dreck
Die Kleine Zeitung findet die Appelle der EU unglaubwürdig:
„Lukaschenkos poststalinistisches Unterdrückungsregime hat eine ... sadistische Qualität. Deshalb ist es auch richtig, wenn die EU auf seinen Abgang und einen demokratischen Wandel in Belarus drängt. Die Aussichten auf einen Erfolg dieser Politik sind aber auch deshalb so gering, weil die Gemeinschaft ihren Werten zuletzt immer weniger Taten hat folgen lassen. Wer ein hybrides, nur noch halbdemokratisches Regime wie das des Ungarn Viktor Orbán nicht nur toleriert, sondern mit Hunderten Milliarden Euro päppelt, der verliert auf Dauer seine Glaubwürdigkeit. Das gilt im Übrigen auch für die deutsche Osteuropapolitik, Stichwort: Nord Stream. ... Die Weißrussen jedenfalls haben gute Gründe, in ihrer aktuellen Freiheitsrevolte keine EU-Fahnen zu schwenken wie die Ukrainer einst auf dem Maidan.“
Belarusen werden allein gelassen
Die Erwartungen an das EU-Gipfeltreffen waren offenkundig übertrieben, meint Pravda:
„Für die EU ist Lukaschenko zwar nicht das legitime Staatsoberhaupt. Aber zum Packen wurde er von den obersten Vertretern der Mitgliedsstaaten nicht aufgefordert. ... Vorherrschend scheint die Meinung zu sein, dass die Belarusen unterstützt werden müssen - auch finanziell. Aber gleichzeitig liege es in erster Linie an ihnen, die Situation zu Hause zu lösen. ... Die Union versucht eindeutig, Belarus nicht in einen Konflikt zwischen ihr und Russland zu verwandeln. Aber was ist, wenn Lukaschenko einen Weg findet, an der Macht zu bleiben? Wenn er mit Gewalt und politischen Tricks die Proteste zumindest teilweise unterdrücken kann? Wird die Union dann bereit sein, ihm klarer zu sagen, dass seine Zeit abgelaufen ist?“
Der Merkel-Macron-Putin-Pakt
Rzeczpospolita empfindet die Strategie der EU als zynisch:
„Wie immer, wenn es um ein Land in der Nähe von Russland geht, berücksichtigen die Mächtigen im Westen Moskaus Wohlergehen und drohen ihm gleichzeitig ein kleines bisschen mit dem Zeigefinger, damit sich auch die Menschen in den eigenen Ländern wohlfühlen. ... Derzeit scheint es so, als hätten wir im Fall von Belarus wie gewohnt diesen Plan: Wir lassen unseren Nachbarn in Moskaus Obhut, und sorgen gleichzeitig dafür, dass es zu keiner Invasion, Besetzung oder Ermordung von Belarusen auf den Straßen und in den Gefängnissen kommt. Das ist der Merkel-Macron-Putin-Pakt.“
Westeuropa fehlt der Respekt vor Osteuropa
Warum die EU die Demokratiebewegung in Belarus nicht stärker unterstützt, weiß The Daily Telegraph:
„Westeuropa betrachtet seine mittel- und osteuropäischen Partner nicht als gleichwertig - nicht einmal diejenigen, die es in die EU aufgenommen hat. ... Stattdessen ist die Sichtweise die, dass die dortigen Menschen von Autokraten mit harter Hand regiert werden müssten und dass ihnen von den Aufgeklärten [im Westen] nicht geholfen werden könne. Dieser Zustand sei nicht zu überwinden, auch wenn die Betroffenen daran nicht selbst schuld seien. ... Belarus kann nur dann wirklich aus seinem langen politischen Winter heraustreten, wenn sich diese Einstellung im Ausland ändert. Bis dahin wird es fest im Griff der Verbrecher bleiben - nicht als funktionierender Staat, sondern als Puffer zwischen Ost und West.“
Auf Soft Power ist kein Verlass
Der Europäische Rat hat zwar Sanktionen gegen Personen angekündigt, die für Gewalt, Repression und Wahlfälschung verantwortlich sind, die EU bezieht aber keine klare Position gegenüber Lukaschenko, konstatiert L'Echo:
„Sie ist nicht in der Lage zu sagen, ob der Präsident selbst auf der Liste stehen wird. Gegenüber dem Moskau Verpflichteten verhalten sich die Europäer also bislang mit einer gewissen Ambiguität. Könnte der Autokrat in einer politischen Transition noch das Gesicht wahren? Die 27 rufen 'die belarusische Führung' jedenfalls dazu auf, 'einen Weg aus der Krise zu finden', indem sie die Gewalt beendet und einen inklusiven nationalen Dialog eröffnet. Das ist kein Einstimmen in das 'Hau ab!', das die Arbeiter in Minsk an den Präsidenten richten, der sich nicht schwächen lassen wollte. Wie immer setzt die EU ihre Soft Power ein, deren Wirksamkeit stark variiert.“
Klare Botschaft an die Demonstranten
Die EU hat Putin keinerlei Angriffsfläche geboten, freut sich hingegen tagesschau.de über das Ergebnis des Sondergipfels:
„Jeder Anschein der direkten Einmischung in Belarus wurde vermieden. Bis zuletzt arbeiteten die Diplomaten an der Gipfelerklärung, feilten an Formulierungen, strichen alles, was dem Kreml Anlass hätte liefern können, die Krise in der Nachbarrepublik mit dem Militär zu lösen. ... Die Europäer haben der Versuchung widerstanden, Stärke zu demonstrieren gegenüber den Machthabern in Moskau und Minsk. Stattdessen haben sie eine klare Botschaft an die Menschen in Belarus gesendet. Die Botschaft lautet: Europas Staats- und Regierungschefs stehen geschlossen an der Seite der friedlichen Demonstranten, sie verurteilen die brutale Gewalt der Sicherheitskräfte. ... Das sind erst einmal nur Worte, sicher. Aber jeder, der das halbherzig nennt, muss sagen, wie die Alternative aussehen könnte.“