Wird Putin in Belarus eingreifen?
In Russland sind Politik und Öffentlichkeit hin- und hergerissen, wie man auf die Entwicklungen in Belarus reagieren soll - auch weil Lukaschenko stets ein Garant der gegenseitigen Nähe war. Viele solidarisieren sich mit der Bevölkerung, andere fürchten eine Entfremdung wie in der Ukraine. Kommentatoren diskutieren das Für und Wider einer aktiven Einmischung Russlands in den Konflikt im Nachbarland.
Notfalls auch mit Waffengewalt
Der konservative Parlamentarier Eerik Kross ist in Postimees überzeugt, dass Russland nicht lang tatenlos zusehen wird:
„Wichtiger als die Vermeidung einer 'Farbrevolution' in der Nachbarschaft ist die strategische Frage. Russland betrachtet Belarus als wichtiges Territorium für die Abwehr der 'Nato-Gefahr'. Belarus als letzter wahrer Verbündeter ist für Putins Traum, das Russische Reich wiederherzustellen, eine Conditio sine qua non. Auch nur das kleinste Risiko, dass Belarus sich für Neutralität oder gar eine westliche Orientierung entscheiden könnte, wird Putin um jeden Preis verhindern. ... Neue Sanktionen oder eine Verschlechterung der Beziehungen zum Westen sind dagegen eine Kleinigkeit. ... Nur die Angst vor einer Niederlage ist ein Grund zur Vorsicht. ... Deshalb ist Putins erste Wahl nicht, mit Waffen gegen das Volk von Belarus vorzugehen. Aber er wird auch davor nicht zurückschrecken.“
Strategisch wichtige Lage
Der Zugang zu Belarus ist für Moskau im Ernstfall enorm wichtig, erläutert der Militärexperte Alexandru Grumaz in Adevărul:
„Eine völlige Bewegungsfreiheit Russlands [in Belarus] würde die Fähigkeit der russischen Truppen erhöhen, die 'Suwalki-Lücke' [die polnisch-litauische Grenze zwischen Belarus und der russischen Exklave Kaliningrad] zu gefährden, um die Nato-Mitglieder Lettland, Litauen und Estland vom Rest der Allianz zu isolieren. Der Kreml könnte von Belarus aus auch gegen die Ukraine vorgehen. Kiew liegt nur 95 Kilometer von der ukrainisch-belarussischen Grenze entfernt, und die Verteidigungsposition der Ukraine ist nicht auf eine Bedrohung an der Nordgrenze vorbereitet. … Auch wenn Lukaschenko ohne Intervention des Kremls die Kontrolle behält, haben die Proteste seine Führungsposition geschwächt. Der Einfluss des Kreml in Belarus wird so oder so wachsen.“
Lukaschenko hofft vergeblich
Putin hat kein Interesse daran, militärisch in den Konflikt einzugreifen, glaubt Kaleva:
„Obwohl die Unterstützung für ihn rundherum schwindet, ist Lukaschenko nicht bereit, die Macht abzugeben. Er zählt auf seinen letzten Trumpf, Wladimir Putins Russland. Implizit hat er das russische Militär zu Hilfe gerufen, als er glauben gemacht hat, dass Nato-Panzer an der Grenze stehen. Bisher hat Putin nicht zu erkennen gegeben, wie er auf den Hilferuf reagieren wird. Die Schwelle für ihn ist jedoch hoch, denn der Aufruhr in Belarus richtet sich nicht gegen Russland, und die Bevölkerung stellt die Union zwischen den beiden Ländern nicht in Frage. Putin kann keine zweite Okkupation wie jene der Tschechoslowakei im Jahr 1968 wollen, oder weitere Sanktionen wie 2014 nach der Annexion der Krim.“
Intervention auch diesmal kontraproduktiv
Ein Eingreifen würde sich in eine ganze Reihe geostrategischer Fehler Russlands einreihen, analysiert The Times:
„Drohungen und Säbelrasseln gegen die baltischen Staaten und Polen veranlassten eine zunächst zögerliche Nato, Pläne und Kräfte zur Verteidigung ihrer Ostflanke aufzubringen. Schikanen gegen Schweden und Finnland brachten diese Nicht-Nato-Länder dazu, aufzurüsten und sich der westlichen Allianz stärker anzunähern. Das Vorgehen gegen die Ukraine, den mit Abstand wichtigsten Nachbarn Russlands, hat die Einstellung der dortigen Öffentlichkeit für eine ganze Generation negativ geprägt. Die Proteste in Belarus sind nicht antirussisch - noch nicht. Eine Intervention des Kremls würde jedoch sicherstellen, dass ein Kampf gegen Wahlfälschung und Polizeibrutalität zu einer Widerstandsbewegung gegen russische Hegemoniebestrebungen wird.“
Tatenlosigkeit des Kremls ist gefährlich
Radio Kommersant FM kritisiert, dass der Kreml bisher nur diffus zu den Geschehnissen Position bezieht:
„Die Lage in der Republik gerät außer Kontrolle. Da darf man nicht einfach nur dasitzen und zugucken. Theoretisch könnte man sich mit den [westlichen] Partnern zusammenschließen und versuchen, eine gemeinsame Position zu finden. Zumindest einen Versuch wäre es wert. Aber bisher sehen wir nur Bemühungen, eine internationale Verschwörung aufzudecken. Als wären es US-Ranger oder EU-Gardisten, die da mit Schlagstöcken einfache Weißrussen verprügeln, auf Autos einschlagen und mit Gummigeschossen in Menschenmengen schießen. Wenn es so weiter geht, riskiert Russland, Weißrussland zu verlieren. Das dort aktuell entstehende Machtvakuum wird sich sehr schnell füllen.“
Im Ernstfall hilft Putin dem ungeliebten Nachbarn
Der liberale Publizist Leonid Gosman sieht in einem von newsru.com übernommenen Facebook-Post die Gefahr einer russischen Intervention:
„Persönlich kann Putin Lukaschenko nicht ausstehen und sähe gerne jemand anderen an dessen Stelle. Doch einen Sturz Lukaschenkos durch den Volkswillen kann er auch nicht zulassen. Dafür sind sich Russland und Belarus kulturell und mental zu nahe - ein Sturz des belarusischen Diktators nach einer Wahl würde die Demokratiebewegung in Russland beflügeln, wo sich das autoritäre Regime auch nur mit letzter Kraft hält. Sollte Lukaschenko also nicht klar kommen, dürfte ihm die Russische Föderation zu Hilfe eilen.“
Die EU hat hier nichts zu melden
Jetzt braucht Belarus einen Deal zwischen den USA und Russland, meint Rzeczpospolita:
„Als Gegenleistung für die Aufrechterhaltung des Status quo wird Lukaschenko entfernt. Der Status quo würde darin bestehen, dass der Westen anerkennt, dass Belarus Russlands militärischer Verbündeter bleiben wird und dass sein zukünftiger Präsident wahrscheinlich pro-russisch sein wird, weil die meisten Belarussen sich so definieren. Der Kreml wiederum wird nicht versuchen, Belarus zu annektieren. ... Wird die Europäische Union gebraucht? Ja, um zukünftige Reformen in Belarus zu finanzieren - sonst für nichts. Die deutsch-französische Führung vermittelt seit sechs Jahren über den Krieg im Donbass, die Konsequenzen dessen sind jeden Tag sichtbar. Man möchte gar nicht daran denken, wozu ihr Einfluss in Belarus führen würde.“