Corona: Wie umgehen mit Kritik und Protest?
Die Berliner Corona-Demonstration mit Zehntausenden Teilnehmern Ende August hat europaweit viel Beachtung erfahren. Nun sind eine Woche später auch in Rom und Zagreb Tausende Menschen gegen die Pandemie-Maßnahmen auf die Straße gegangen. Kommentatoren versuchen zu ergründen, woher der Frust und das Unverständnis der Protestierenden rühren und wie man ihnen begegnen sollte.
Wir werden wie Kinder behandelt
Der Kampf gegen das Virus gibt all jenen Auftrieb, die das Leben der Menschen bis ins kleinste Detail regeln wollen, klagt The Daily Telegraph:
„Das Virus hat eine außer Rand und Band geratene Kultur des Gesundheits- und Sicherheitszwangs noch weiter befeuert. Wir werden mehr denn je wie kleine Kinder behandelt. Dass uns die Regierung ständig darüber belehrt, wie ungezogen es sei, kalorienreiche Nahrung zu sich zu nehmen, war anstrengend genug. Doch im Zeitalter von Covid ist alles noch viel schlimmer, weil alle Aspekte unseres Lebens bis ins kleinste Detail geregelt werden. In der Tat ist die Covid-Ära das reinste Vergnügen für Bürokraten, Paragrafenreiter und all diejenigen, die es lieben, Gründe zu finden, warum dies und das unmöglich zugelassen werden dürfe - und falls doch, nur dann, wenn vorher 47 Formulare ausgefüllt werden.“
Gefährdung von Leben ist die rote Linie
Auch das Recht auf Meinungsfreiheit und Proteste hat Grenzen, erklärt Jutarnji list:
„Die meisten, die sich zum Zagreber 'Festival der Freiheit' versammelt haben, sind Verschwörungstheoretiker, überzeugt davon, Covid-19 sei ungefährlich oder eine Erfindung, damit Staat und Regierung Menschenrechte einschränken können. ... Auch den Menschen die Versammlungsfreiheit zuzugestehen, die bizarre Ideen fördern, ist Teil der Demokratie. Wenn jemand an Echsenmenschen glauben möchte, ist es sein gutes Recht - auch wenn es freilich unangenehm ist, wenn dieser jemand Ihr Arzt sein sollte. Doch muss eine klare Grenze gezogen werden, wenn Menschenleben in Gefahr sind. Diejenigen, die es ablehnen, während der Pandemie ein Minimum an Normen einzuhalten, um andere Menschen zu schützen, sind gefährlich und sollten sanktioniert werden.“
Bloß nicht Zuschauen und Abwarten!
Es braucht dringend eine adäquate Reaktion auf die Bewegung der Corona-Leugner und Maßnahmen-Kritiker, fordert Avvenire:
„Während die globale Partei des gesunden Menschenverstandes mit langsamen und widersprüchlichen Schritten einen Ausweg aus der Krise sucht, schlägt die riesige und heterogene internationale Koalition der Souveränisten entschlossen den gesellschaftlich gefährlichsten Weg ein: den des Leugnens. … Diese Entwicklung zu unterschätzen wäre ein gravierender Fehler, denn das globale 'No-Mask'-Netzwerk ist mächtig und gut strukturiert. Zur 'populistischen' Basis kommen Patrouillen offen neonazistischer Extremisten hinzu, die eine große Anziehungskraft auf junge Menschen ausüben. ... Eine rechtzeitige Antwort wäre entscheidend. Eine politische und sich dem Dialog stellende Antwort, und vor allem eine europäische.“
Schluss mit der Suche nach Schuldigen
Mehr Verständnis dafür, dass auch die obersten Entscheidungsträger Fehler machen können, wünscht sich der Kurier:
„Man ruft ... nach einer starken Führungspersönlichkeit, empört sich aber in der nächsten Sekunde über die autoritäre Freiheitsbeschränkung. Wagt ein Entscheidungsträger, seinen Entschluss aufgrund triftiger Einwände zu revidieren, wirft man ihm Zickzack-Kurs vor. ... Dass auch Regierungen, und zwar weltweit, von dieser Pandemie überrumpelt waren und nicht auf alles gleich eine schlüssige Antwort hatten (nicht einmal die Experten sind ja einig), ist schwer zu akzeptieren. Besonders für jene, die von der Krise besonders hart gebeutelt sind. Es erleichtert, wenn man seine ohnmächtige Wut auf jemanden projizieren kann. Die Kehrseite dieser ständigen Schuldigensuche ist die Angst vor Verantwortung. Sie verführt zum Weiterdelegieren.“
Zweifel beleben die Demokratie
Die Corona-Krise verändert die Beziehung zwischen Regierung und Bürgern, beobachtet Le Temps:
„Die Auseinandersetzungen zwischen Fachleuten über das richtige Risikomanagement oder die Entwicklung der Ansteckungskurven, das Umschwenken der Meinung darüber, welche Rolle Kinder bei der Ausbreitung der Pandemie spielen und das Eingeständnis von Wissenslücken erzeugten bei den Bürgern zeitweise den Eindruck einer Kakophonie. ... Auch wenn sich die [schweizerischen] politischen Instanzen angesichts des generellen Vertrauensverlusts in die Eliten westlicher Gesellschaften bisher recht wacker geschlagen haben, scheint die Covid-19-Bekämpfung doch erste Kratzer zu hinterlassen. Zweifel sind dennoch heilsam. ... Zweifel sind kein Misstrauen, das anderen böswillige Absichten unterstellt, sondern ein rationaler Ansatz, der Ausdruck der Reflexionsfähigkeit der Bürger ist. Ein kartesianischer Akt. Ein Zeichen für die Vitalität der Demokratie.“
Alles bleibt schwierig
Dass nach dem Urlaub wenig besser ist, als vor dem Urlaub, frustet Le Soir:
„Der September naht und alles bleibt, wird wieder oder ist schon wieder schwer. Diese überall und so oft wie möglich zu tragende Maske. Man träumt von der Rückkehr ins Büro, aber die Straßenbahn oder den Zug zu nehmen, ist auch noch nicht das Wahre. Und zu Hause zu bleiben vor dem Computer - ohne die anregenden Kollegen, ohne helfende Kontakte - auch das wird schwer ertragbar. Man ist ausgeruht - man hatte sich ohnehin eine Auszeit genommen - aber tief im Innern ist man immer noch ständig müde. Man hat uns die Lebensfreude genommen, so wie sie eigentlich ist oder wie sie vorher war. Und man bedauert, sie nicht besser gewürdigt zu haben, durch das Genießen des Moments, selbst des banalsten.“
Ohne Erfolgserlebnis schwindet der Mut
Die bescheidene Bilanz der bisher gebrachten Opfer ernüchtert auch The Irish Independent:
„Die meisten Menschen kommen mit einer akuten Notsituation trotz der Angst ziemlich gut zurecht. In Phase zwei lernten wir die wichtigsten Faktoren des Problems kennen und was als Nächstes zu tun ist: soziale Distanz, Handhygiene, richtiges Husten und Masken. ... Die dritte Phase ist die schwierigste, weil wir bewerten, was uns die großen Opfer der vergangenen Monate gebracht haben. Und da müssen wir feststellen, dass das Leben in unserem Land immer noch sehr stark beeinträchtigt ist, dass es weiter Spannungen gibt und dass sich die Einschränkungen ständig ändern. Jeden Abend warten wir gespannt, wie viele neue Corona-Fälle es gibt. Sieht so Erfolg aus?“
Scheibchenweise vergessen wir unsere Freiheit
Die Angst vor der Pandemie und die willkürlichen Maßnahmen der verschiedenen Regierungen haben den Bürgern den Drang nach Freiheit geraubt, bedauert die aus Spanien berichtende Korrespondentin Urša Zabukovec in Delo:
„Das Coronavirus hat weniger unsere Körper betroffen, als unseren Verstand verstümmelt. Denn wir haben auf unsere Lebensqualität verzichtet. Angesichts der Agonie der willkürlichen Einschränkungen, der Einschüchterung und der Unterdrückung in Corona-Zeiten scheinen sich die Menschen damit abzufinden, dass ihnen die Freiheit nicht - wie US-Präsident Jefferson einst formulierte - von Gott, sondern von einer bestimmten Menschengruppe, also der jeweiligen Regierung, erteilt wird. Diese kann geben und nehmen, wie es ihr passt. Das geschieht auch in unserer Gesellschaft [in Slowenien], deren Verstand tief schläft.“