Trump und der blinde Fleck der Meinungsprofis
Auch wenn das Pendel immer deutlicher in Bidens Richtung ausschlägt: Donald Trump schneidet bei der US-Wahl wie schon 2016 deutlich besser ab als prognostiziert. Zudem kann er als amtierender Präsident weitgehend ungehindert auch unwahre und gezielt irreführende Behauptungen über die Medien verbreiten. Warum werden Journalisten und Meinungsforscher dem Phänomen Trump nicht Herr?
Lügen und Hass den Ton abdrehen
Einige US-Medien haben eine Antwort auf Trumps haltlose Aussagen gefunden, bemerkt die Wiener Zeitung:
„Mitten in der langerwarteten Erklärung Trumps, in der er sich bereits zum Sieger erklärte ... und von Wahlmanipulationen fantasierte, drehte NBC ihn einfach stumm. Schaltete ins Studio und erklärte, man wolle nun alle Unwahrheiten Trumps korrigieren. Im Hintergrund ein gestikulierender US-Präsident, der ungehört weiter sinnierte, davor Journalisten und Journalistinnen, die alle Lügen ihres Präsidenten klarstellten. Vielleicht ist das die Zukunft der Fernseh- und Online-Diskussionen? Man unterbricht gleich. Man sagt, dass hier nun ein Fehler vorliegt. Lässt Leuten nicht mehr den Raum, um Hetze, Hass und Lügen zu verbreiten. ... Man muss eine Gesprächskultur einfordern. ... Und wer nichts zu sagen hat, der soll auch nicht reden.“
Systemhasser boykottieren auch Umfragen
Warum Demoskopen das wahre Gewicht der Protestwähler so unscharf erfassen, erklärt der Soziologe Grigori Judin in einem von newsru.com übernommenen Facebook-Post:
„Diese Fehler geschehen nicht, weil für die Umfragen nicht die richtige Stichprobe ausgewählt wird, sondern weil Menschen mit gewissen Vorlieben nicht an Umfragen teilnehmen wollen. Umfragen sind keine fliegenden Untertassen, von denen man auf das politische System hinunterschauen kann, sie sind selbst ein Schlüsselelement des politischen Systems. Wer diesem System misstraut, wen es nervt oder wer es hasst, nimmt höchstwahrscheinlich nicht an Umfragen teil. Und wählt dann aus Protest - obwohl man vielleicht ein paar Tage vor dem Wahltag selbst noch gar nicht wusste, dass man das tun wird.“
Skrupellos, individualistisch, amerikanisch
Europa ignoriert das Amerika, für das die Trump-Wähler stehen, bemerkt der Historiker Ernesto Galli della Loggia in Corriere della Sera:
„Das Amerika der Prärien und Kleinstädte, verwurzelt in seinen uralten Vorurteilen, unempfindlich gegenüber allem, was außerhalb seiner bewegt und gedacht wird (angefangen bei den vielgeschmähten liberalen Medien). Überzeugt vor allem davon, dass Freiheit im Grunde nur eines bedeutet: innerhalb möglichst weniger, nur grundsätzlicher Grenzen tun zu können, was man will. ... Es ist dieses Amerika, dessen Wertvorstellungen einer Art anarchischem Individualismus gleichen, das sich in Trump wiedererkennt. ... Das ist das offenbar unauslöschliche Erbe der Geschichte eines Landes, das dank der skrupellosen Initiative Einzelner entstanden ist und das Schicksal seiner Gemeinschaft oft der Sprache der Waffen anvertraut hat.“
Hoffnung schlägt Furcht
Trumps Erfolgsrezept ist die positive Botschaft seines Wahlkampfs, schreibt Aftonbladet:
„Wahlkampf spielt sich oft in einem gefühlsmäßigen Spektrum zwischen Hoffnung und Furcht ab. Barack Obamas Parole 'Ja, wir können' oder Ronald Reagans 'Es ist Morgen in Amerika' gaben Hoffnung und Zuversicht auf geniale Art und Weise wieder. Aber das tut auch Donald Trumps 'Amerika wieder großartig machen'. Der Tod ist dagegen sehr deprimierend. An den will man am liebsten überhaupt nicht denken. Und deswegen ist die Botschaft 'Wähle mich, dann kriegst du einen Job' immer besser als 'Wähle mich, sonst wirst du arbeitslos'. Oder wie die Demokraten es mehr oder weniger gesagt haben: 'Wähle uns, sonst stirbst du'.“
Abstimmung über das Corona-Narrativ
Der Politologe Gleb Kusnezow hält in einem von newsru.com übernommenen Facebook-Post die Position der Kandidaten zur Corona-Pandemie als maßgeblich für Trumps unerwartet starkes Abschneiden:
„Dies waren die ersten 'großen' Corona-Wahlen. Und votiert wurde unter anderem - und vielleicht sogar vorrangig - nach den 'Corona-Narrativen'. ... Die Demokraten setzten auf die Interpretation der Wissenschaft. Bei einem der letzten Großauftritte von BidenHarris ging es darum - 'Masken, Quarantäne, Kontaktverfolgung, verantwortungsvolles Handeln, kostenloser Impfstoff' -, was nicht gut ankam, ungeachtet aller Hilfsversprechen. Die Gegenposition - wir leben hier und jetzt wie gewohnt weiter, wenn man krank wird, wird man wie Trump behandelt, früher oder später stirbt man so oder so - gewinnt dagegen die Oberhand, auch wenn sie laut Umfragen als 'sozial verwerflich' gilt.“
TV-Werbung ist längst nicht alles
Immerhin: Das Geld hat nicht entschieden, entdeckt die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Lichtblick im Durcheinander:
„Schon vor vier Jahren hatte Donald Trump viel weniger ausgegeben als Widersacherin Hillary Clinton. Diesmal akquirierte das Wahlkampfteam Joe Bidens bis zum Wahltag Spenden und erkämpfte wieder einen finanziellen Vorteil gegenüber Trump. ... Stecken die Demokratische Partei und ihre Helfer in alten Vorstellungen fest? Ihre Wahrnehmung der Welt wird womöglich zu stark von klassischen Medien geprägt und der Vorstellung, dass TV-Werbung die gleiche Wirkung hat wie vor 30 Jahren. Heute erreichen gewitzte Strategen und hochtalentierte Wahlkämpfer wie Trump mehr Leute mit geringerem Geldeinsatz über Twitter, Facebook und Instagram. Darin liegt eine durchaus tröstliche Erkenntnis.“
Nicht nur bei Weißen populär
Das Ergebnis ist jedenfalls ein moralischer Sieg für Trump, meint The Daily Telegraph:
„Laut einer Umfrage in Florida konnte Trump den Vorsprung der Demokraten unter den Hispanics von 27 auf gerade mal acht Prozentpunkte verringern. Das ist viel. Es widerspricht völlig der vorherrschenden medialen Darstellung, dass Trump ein rassistischer Kandidat sei, der vor allem auf Rassisten stark anziehend wirke. Wenn er weiße Wähler mit Hochschulabschluss verliert, aber dank verstärkter Unterstützung durch Hispanics im Rennen bleibt, dann zeigt uns das, dass die Realität viel differenzierter ist als das, was wir medial serviert bekommen. Es deutet darauf hin, dass die Republikaner unter seiner Amtszeit zu einem echten Arbeiterbund geworden sind. ... Selbst wenn Trump verliert, kann er für sich in Anspruch nehmen, die Partei breiter aufgestellt und nach seinem Bild neu gestaltet zu haben.“
Diesmal wissen sie, was sie tun
Dass sich ein Großteil der Wähler bewusst für Trump entschieden hat, wird die Spaltung des Landes verstärken, befürchtet der Tagesspiegel:
„Rund die Hälfte der Bevölkerung des Landes steht weiter zu Trump. Vor vier Jahren stimmten sie für einen weitgehend Unbekannten. Jetzt wussten sie, was sie taten – und taten es trotzdem. Das heißt, sie sind keine Verführten mehr, keine Hillary-Hasser, keine Abgehängten und Frustrierten. Sondern es sind Menschen, die eine bewusste Entscheidung getroffen haben. ... So steht ein Ergebnis dieser Wahl, ohne dass das Hauptergebnis bekannt wäre, bereits fest: Die Spaltung des Landes wird zementiert.“
Das Volk hat gesprochen
Zu mehr Vertrauen in die US-amerikanische Demokratie ermuntert La Razón:
„Es ist gerade schwer abzuschätzen, wie stark und wie lange die aufgeregte Stimmung der US-Bürger anhält. Aber es kann keinen Zweifel daran geben, dass sich die Demokratie und die starken Institutionen durchsetzen. Selbst die schlechten Aussichten durch die Entwicklung der Pandemie, die erneut droht, die Wirtschaft zu zerlegen, können an dieser Realität nichts ändern. Eine Realität, die von den internationalen Medien nicht immer richtig dargestellt wird, weil sie nicht die nötige Distanz wahren, sondern Stellung beziehen. Einmal mehr glaubten sie, dass die von ihnen selbst gezeichnete Trump-Karikatur dem Bild entspricht, das alle US-Bürger sehen. Nein. Es ist sehr gut möglich, dass Trump eine neue Amtszeit bekommt. Und das bedeutet, dass die Demokratie gesprochen hat.“
Gegensätze nicht übertreiben
Die Spaltung der US-Gesellschaft ließe sich durch Ernstnehmen der Andersdenkenden überwinden, glaubt Journalistin Amanda Ripley in einem Kommentar für The Washington Post, den The Irish Independent abdruckt:
„Je mehr Nachrichten die Amerikaner konsumieren, desto weniger informiert sind sie über ihre politischen Gegner. … Das ist eine gefährliche Situation. Republikaner glauben, dass Demokraten gottloser, schwuler und radikaler sind, als sie es in Wirklichkeit sind. Demokraten nehmen an, dass Republikaner reicher, älter und unvernünftiger sind, als es tatsächlich der Fall ist. Uns wurde erfolgreich beigebracht, uns gegenseitig als Witzfiguren wahrzunehmen. Aber unserem Land bleibt noch immer Zeit, um daran etwas zu ändern. Gewaltvolle Rhetorik kann Gewalt befeuern. Aber friedliche Rhetorik befördert den Frieden.“
Trump war ein Geschenk für die EU
Die Europäische Union hat von Trumps Kurs, allein die Interessen der USA zu berücksichtigen, profitiert, bemerkt Politiken:
„Trumps enormer Druck auf die EU hat deren internen Zusammenhalt gestärkt. … Sowohl die Ausarbeitung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik als auch der wirtschaftliche Zusammenhalt wurde in den letzten vier Jahren markant stärker, zuletzt durch die gemeinsame Aufnahme von Schulden in der Corona-Krise. Ungeachtet dessen, was in den USA in der nächsten Zeit geschieht, sollte, ja muss dieser Prozess voranschreiten - und Dänemark so viel wie möglich daran teilnehmen.“