Erdoğan: Die Zukunft der Türkei liegt in Europa
In den vergangenen Tagen hat sich Recep Tayyip Erdoğan, unter anderem auf dem G20-Gipfel, mehrmals in deutlichen Worten zu Europa bekannt. Dort liege die Zukunft seines Landes, sagte der türkische Präsident, der in den Wochen zuvor wiederholt mit markigen Worten gegen europäische Werte und Politiker gewettert hatte. Kommentatoren suchen nach möglichen Erklärungen für die Kehrtwende.
Bloße Taktik - und ein Hebel für Brüssel
Die EU sollte sich von Erdoğans salbungsvollen Worten nicht täuschen lassen, meint die Türkei-Korrespondentin des Tagesspiegel, Susanne Güsten:
„Erdoğan gibt den Reformer, weil er Sanktionen vermeiden will. So will er den Zusammenbruch der Wirtschaft verhindern und seine Macht sichern. Die türkische Wirtschaftskrise gibt der EU einen Hebel in die Hand, mit dem sie wirksam Druck auf Erdoğan ausüben kann - diese Gelegenheit sollte Europa auch nutzen. ... Wenn die EU sich mit ein paar symbolischen Gesten der Türkei abspeisen lässt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die nächste Krise ausbricht - und Europa ohne Einflussmöglichkeiten dasteht. ... Die Türkei braucht die EU, ihren größten Handelspartner, mehr denn je.“
Der Diplomatie eine Chance geben
Die EU sollte Erdoğans Worte ernst nehmen, meint Milliyet:
„Stimmen aus Europa haben in den letzten Tagen gezeigt, dass erneut stürmische Zeiten auf die Türkei-EU-Beziehungen zukommen. Beim EU-Gipfel am 10. Dezember wird man sich mit Sanktionsentwürfen gegen die Türkei befassen. ... Allerdings sollte die EU die negativen Folgen einer solchen Entscheidung gut abwägen. Sie würde Ankara endgültig von der EU wegtreiben und dazu für ernsthafte Reibungen mit Griechenland und Frankreich sorgen. ... In dieser Hinsicht wäre es für die Staats- und Regierungschefs der EU und die derzeitige Ratsvorsitzende Bundeskanzlerin Merkel von Vorteil, dieses kritische Thema nicht mit harten Worten, sondern mit einem realistischeren Ansatz anzugehen, der der Diplomatie eine Chance gibt.“
Seine Taten sprechen eine andere Sprache
Erdoğans aggressive Außenpolitik, etwa in Bergkarabach, im Gasstreit oder auf Zypern, ist gleichzeitig Ursache für die Misere und Ablenkung davon, schreibt Kommersant:
„Je mehr militaristische Reden und Taten Erdoğans es gibt, umso weiter entfernt sich die Türkei von wirtschaftlicher Expansion, was ein reales Anzeichen für wachsenden Einfluss wäre. Die jüngsten wirtschaftlichen Nöte sind dafür nur eine weitere Bestätigung. ... Es gibt einige Gründe dafür: Erstens klassisches Ablenken von ernsten Problemen, das 'Spiel für den Hausgebrauch'. ... Zweitens ist das Schaffen der Illusion von der 'Errichtung eines neuen Imperiums' die Grundlage, um Erdoğans Machtfülle noch auszubauen. Und das Wichtigste: Es ist viel schwieriger, ein neues Modell zu formulieren als Relikte des gesellschaftlichen Bewusstseins auszuschlachten.“