Frankreich: Proteste gegen Polizeigewalt halten an
Auch am vergangenen Wochenende ist es in Frankreich zu Massenprotesten gegen das geplante neue Sicherheitsgesetz kommen, das Videoaufnahmen von Polizeikräften im Einsatz einschränken soll. In Paris kam es dabei erneut zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Woher rührt die Spirale von Konfrontation und Gewalt - und wie kann sie gestoppt werden?
Gewalt unter Macron nimmt kein Ende
Die aktuellen Ausschreitungen reihen sich in eine Besorgnis erregende Serie ein, stellt Der Standard fest:
„Wie immer man die - letztlich politische - Ursachen- und Schuldfrage beantwortet, gibt doch etwas zu denken: Seit gut zwei Jahren steht die Präsidentschaft Emmanuel Macrons im Banne der Gewalt. Gelbwesten, Proteste gegen Reformvorhaben und jetzt gegen Polizeigewalt - die Gewaltspirale dreht sich in Frankreich immer schneller. ... Die zunehmende soziale, politische und gesellschaftliche Spannung in Frankreich hat zumal in der unwägbaren Corona-Zeit etwas Beunruhigendes. Nicht auszuschließen, dass Macrons Amtszeit im Schlamassel endet.“
Das Demonstrationsrecht in Gefahr
Die Gewalt, die den Protest gegen das Sicherheitsgesetz begleitet, muss aufhören, mahnt Le Monde:
„Das Grundrecht, friedlich zu demonstrieren, ist in Gefahr. Nicht nur durch die Covid-19-Pandemie, sondern vor allem durch die Gewalt, die die Protestmärsche fast systematisch in Konfrontationen mit den Ordnungskräften und Demonstrationen in Ausschreitungen verwandelt. ... Diese Spirale, die eine gefährliche autoritäre Versuchung nährt, muss dringend gestoppt werden. ... Zunächst einmal müssen wir, statt die Polizei zu militarisieren und von den Demonstranten zu isolieren, eine Strategie des Dialogs und der Beschwichtigung umsetzen, wie sie von vielen europäischen Polizeikräften erfolgreich angewandt wird. Es geht aber auch um politische Deeskalation, um den Bruch mit der arroganten Vertikalität, die allzu oft die Norm ist.“
Alle sollten für unsere Grundrechte kämpfen
Zugunsten einer differenzierteren Debatte sollten sich auch Menschen jenseits des linken Spektrums den Protesten anschließen, fordert die liberale Journalistin Nathalie Meyer in Contrepoints:
„Ich persönlich möchte es nicht allein den Linken überlassen, für die Erhaltung unserer Freiheiten und für die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit zu kämpfen. ... Nicht alle Polizisten sind Schweine, im Gegenteil. Die Polizei ist dazu da, uns zu schützen, nicht um sich gegenseitig durch eine Art Gesetz des Schweigens und der vorsätzlichen Blindheit zu schützen. So wahnhaft und böse die Unterstellung All cops are bastards ist, so wahnhaft und böse ist es auch, zu denken, dass die Institution ein perfektes Ganzes bildet, das sich nie täuscht und vor dem sich die Individuen beugen müssen.“
Vertrauen braucht Transparenz
Dass friedliche Proteste in Frankreich in jüngster Zeit zunehmend von Gewalt überschattet werden, liegt auch an der Polizei, stellt die Frankfurter Allgemeine Zeitung klar:
„Allein die mit Videos dokumentierten Fälle von Polizeigewalt in diesem Jahr lassen den Schluss zu, dass es sich nicht mehr nur um isolierte Vorfälle handelt. Auch in Frankreich gilt, dass die allermeisten Polizisten ihre Arbeit als Dienst für das Allgemeinwohl verrichten. Einige glauben aber offenbar, dass sie das, was sie für Recht halten, in die eigenen Hände nehmen dürfen. Damit sie nicht straffrei ausgehen und solche Übergriffe nicht zum Normalfall werden, muss es weiter erlaubt sein, Polizeigewalt zu dokumentieren. Denn zum Vertrauen in die Polizei gehört auch, dass deren Arbeit transparent ist.“
So sieht Macrons Demokratie aus
Der brutale Angriff auf Michel Zecler hat den Menschen die Augen geöffnet, schreibt die linke Wochenzeitung Dromos tis Aristeras:
„Viele Polizisten waren mit grünem Licht von Macron auf die Straße gegangen, um die Menge der Gelbwesten niederzumachen. Für ihre Leistungen wurden sie mit der Verabschiedung des unglaublichen Sicherheitsgesetzes belohnt, das den Bürger:innen unter anderem verbietet, Polizeibeamte in Aktion auf Video aufzunehmen. Immer mehr Menschen verstehen jetzt, warum eine 'parlamentarische Mehrheit', die dem Volk nicht nahe steht, solche Gesetze verabschiedet. Wie die jüngsten regierungsfeindlichen Demonstrationen und die Wut, mit der Macrons Schläger sie unterbrochen haben zeigen, ist die Ära der Zustimmung unter Vorwänden vorbei. ... Das mit Zecler ist kein unglücklicher Vorfall, sondern die Regel. Elite und Demokratie sind unvereinbare Konzepte.“
Vor allem eine Autoritätskrise
Dem Staat ist ganz allgemein die Macht entglitten, schreibt Le Figaro tadelnd:
„Unsere öffentlichen Behörden sind machtlos gegenüber konkreten Gefährdungen der Sicherheit und versuchen, ihre beunruhigende Schwäche durch gesetzgeberischen Eifer zu kompensieren. … Aus Sicht der anständigen Leute werden die Grundfreiheiten mit Füßen getreten, wie auch das Oberste Verwaltungsgericht befindet. … Artikel 24 sollte uns eigentlich weniger kümmern als die Autoritätskrise, die unser Land erschüttert. Der Polizist, der seine Uniform in Misskredit bringt, und der Randalierer, der seine Demonstration beschmutzt, sind die schlimmsten Symptome davon. Aber die Feigheit des Staates gegenüber der Alltagsgewalt, dem Scheitern der Schule und schwindendem Sozialverhalten tragen daran nicht weniger Schuld. ... Wenn Autorität nur noch auf Verordnungen beruht, erntet sie Disziplinlosigkeit.“
Privates Glück und öffentliches Misstrauen
Der französische Historiker und Soziologe Marc Lazar analysiert in La Stampa:
„Vertrauen ist das Schlüsselwort. Denn der Argwohn gegenüber der Polizei ist nur ein Symptom eines allgemeineren Phänomens. Alle Umfragen zeigen, dass es einen frappierenden Kontrast zwischen einem sehr hohen Maß an privater Zufriedenheit und einem allgemeinen Misstrauen gegenüber allen politischen und öffentlichen Institutionen sowie ihren Vertretern gibt. Frankreich im Jahr 2020 ist privates Glück und öffentliches Misstrauen. Das ist besorgniserregend für den Zustand der französischen Demokratie.“