Ist die US-Demokratie nachhaltig beschädigt?
Die Ereignisse vergangene Woche in Washington lassen Beobachter nicht los. Nachdem Donald Trump die demokratischen Institutionen der USA vier Jahre lang immer wieder infrage gestellt und angegriffen hatte, drangen seine Anhänger kurz vor Ende der Amtszeit ins Kapitol ein. Einige Kommentatoren wähnen die Demokratie in großer Gefahr. Andere sahen inmitten des Chaos einen neuen politischen Hoffnungsträger auftreten.
Die Gefahr geht nicht vom unteren Ende aus
Das Entsetzen über die Trump-Anhänger darf den Blick auf die tieferliegenden Probleme nicht verstellen, mahnt Göteborgs-Posten:
„Natürlich gibt es eine enorme Unzufriedenheit in den USA, sonst wäre Trump niemals Präsident geworden. Aber diese angestaute Unzufriedenheit wird vor allem dann zur Bedrohung, wenn sich die Politiker nur noch streiten und keine Reformen mehr zustande bringen können. Der Fisch stinkt vom Kopf her. Erst wenn man sich an der Spitze kaum mehr auf irgendetwas einigen kann, ist die Gesellschaft bedroht. Hat diese Krankheit erst einmal die politische Klasse eines Landes befallen, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis eine Krise aufzieht - Donald Trump, Migration, Corona oder etwas anderes. Schwäche an der Spitze ist für eine Gesellschaft tausendmal gefährlicher als Wut am unteren Ende. Doch so sieht die Realität in den USA jetzt aus. Und auch in Schweden.“
Schritt für Schritt ausgehöhlt
ERR Online warnt:
„Die Demokratie ist ein zerbrechliches Gut, das nicht nur per Staatsstreich verschwinden kann. Das gleiche Ergebnis erreicht man mit vielen kleinen, gezielten Schritten, die am Ende die Stützpfeiler der Demokratie zu einem viel feineren Pulver mahlen als ein kräftiger Putsch. ... Auch in Europa gibt es mehrere Länder, wo gewählte Regierungen die Demokratie Schritt für Schritt aushöhlen. ... Das Rezept ist einfach - in den Ämtern Professionalität durch Loyalität ersetzen, die Opposition einschränken, Medien erniedrigen und verstaatlichen, äußere Feinde erfinden (George Soros), Institutionen schwächen (Wahlen, Gerichte), Verschwörungstheorien schweigend stärken - und auf einmal gibt es kein Zurück mehr. ... Was am 6. Januar in den USA stattfand, ist das Ergebnis der systematischen Diskreditierung der freien Wahl - einem der wichtigsten Stützpfeiler der Demokratie.“
Hoffnungsschimmer Pence
Eine Lobeshymne auf das Verhalten des amtierenden Vizepräsidenten in der jüngsten Krisensituation singt liga.net:
„Er war Donald Trumps engster Mitstreiter. Er hat ihn immer in Schutz genommen. Er war ein loyales und starkes Teammitglied. Und mehr als 30 Jahre lang in der Republikanischen Partei. Aber in der für das Land entscheidenden Stunde hat er die US-Institutionen und die Verfassung in Schutz genommen. … Für einen Abend wurde er US-Präsident. Er weigerte sich, aus Washington zu fliegen, obwohl die Anweisung des Sicherheitsdienstes war, die Top-Beamten in Sicherheit zu bringen. Er blieb in der Hauptstadt, telefonierte und koordinierte die Arbeit der Behörden. … Und so hat die Republikanische Partei einen neuen starken Führer. Diesmal einen echten Republikaner.“
Auch Biden wird auf Gewalt zurückgreifen
Mit noch mehr Gewalt in den USA rechnet Tvxs:
„Armut, kapitalistische Gier und Barbarei haben eine tiefe Polarisierung der amerikanische Gesellschaft verursacht. Die Probleme werden nicht aufhören und der Kapitalismus wird zur Verarmung Millionen junger Arbeiter, Spannungen und Konflikten führen. Die Krise wird auch die Arbeiter mobilisieren. Der neue Präsident Biden wird Mobilisierungen und Aufständen nicht gewaltlos begegnen. Auch er wird auf Unterdrückung zurückgreifen und sich später auf die gleichen Paramilitärs verlassen, auf die sich Trump verlassen hat.“
Das System ist vergiftet
Die Attacke aufs Kapitol darf nicht einfach als tragikomische Episode abgetan werden, mahnt die Schriftstellerin Emma Riverola in El Periódico de Catalunya:
„Zwischen Parodie und Tragödie haben ein paar haarsträubende Figuren das Kapitol gestürmt. Sie gehorchten Trump. Und wieder der Zweifel: Ist das eine letzte Eiteransammlung, die da herausquillt? Oder hat sich die Infektion ausgeweitet und droht, eine Sepsis des Systems hervorzurufen? Das Meinungsforschungsinstitut YouGov hat eine schnelle Umfrage durchgeführt. Unter den Republikaner-Wählern unterstützen 45 Prozent die Attacke. Vorsicht!“
Genau davor haben die Gründerväter gewarnt
Diese Geschichte ist nicht zu Ende, warnt Postimees:
„Selbst die unglaublichsten Szenarien sind denkbar - aus dem einfachen Grund, dass sich das menschliche Wesen nicht verändert hat. James Madison und andere Gründerväter der USA haben sich darüber keine Illusionen gemacht. Sie sahen die Menschen als schwach und manipulierbar. Die höchste Macht sollte zwar dem Volk gehören, aber sie sollte gründlich in Einzelteile zerlegt werden. Dies wurde getan, um das Volk vor sich selbst zu schützen. Ansonsten könnten Menschen mit schlechten Absichten 'Stimmen durch Intrigen, Korruption und sonstige Mittel bekommen und dann das Interesse des Volkes verraten'. Die letzten vier Jahre haben überzeugend bewiesen, wie vorausschauend die amerikanischen Gründer vor 200 Jahren waren.“
Demokratien sollten sich in Acht nehmen
Weltweit sind Demokratien wehrlos gegenüber einem leicht anzustachelnden Mob, kommentiert Habertürk:
„Trump hat der Welt gezeigt, welch schwache, zerbrechliche und schutzlose Regime Demokratien angesichts despotischer Staatsführer und solcher Horden sind, die die Demokratie nicht verinnerlicht haben. ... Mit solchen Menschen an der Spitze werden auch politische Parteien sehr schnell zu Strukturen, die nicht mehr von der vernünftigen Mehrheit, sondern von der tobenden Minderheit kontrolliert werden. Alle Demokratien stehen in naher Zukunft vor diesem Risiko. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir auch in Europa aufgrund des zunehmenden Rassismus und der Vorherrschaft der Ungebildetheit bald ähnliche Bilder sehen.“
Das Moralisieren hat ein Ende
Die Gegner der Demokratie lachen sich weltweit ins Fäustchen, meint G4media.ro:
„Es wird von nun an schwer für die USA sein, vorzugeben, sie seien der Exporteur der Demokratie und guter Praktiken. Man kann keine Lektionen mehr über Demokratie erteilen, nachdem man von einem Präsidenten geführt worden ist, der von einer zutiefst korrupten Nomenklatura umgeben ist, schamlos Vetternwirtschaft betrieben und seine Macht missbraucht hat, um verurteilte Mitarbeiter und Freunde zu begnadigen. ... Authentische Autokratien wie Russland oder China haben allen Grund zur Freude. Einer wie Putin wird den Aufstand in Washington und die Exzesse der Ära Trump sehr gern als Scheitern des demokratischen Modells im Allgemeinen und des US-amerikanischen im Besonderen ausschlachten.“
Die USA schaffen das
Man sollte die US-Demokratie nicht unterschätzen, kontert Corriere della Sera:
„Um ein Parlament zu stürmen, muss man eines haben; und viele große Länder kennen das repräsentative System nicht, das zudem im ganzen Westen in der Kritik steht. Amerika bleibt das Referenzland für die Welt, nicht nur wegen seiner Militärbasen, seiner Kulturindustrie, seiner Internetgiganten. Es bleibt die erste Supermacht, gerade weil es eine Demokratie ist, genährt von den besten Energien der Menschheit, von Wissenschaftlern - die einzigen verfügbaren Impfstoffe gegen Covid sind amerikanisch -, von Einwanderern, von Minderheiten. ... Die Stärke Amerikas ist genau die Komplexität, die The Donald und seine Mitläufer zu leugnen oder zu vereinfachen versuchen. ... Nun, da jeder die Stärke und Gefahr der Extremisten begriffen hat, kann ihr Niedergang beginnen.“
Lieber turbulente Dynamik als stabile Erstarrung
Das US-amerikanische Politikmodell ist erfolgreicher als das russische, findet Echo Moskwy, auch wenn die USA derzeit einige Turbulenzen erleben:
„Ein Festival idiotischer politischer Korrektheit, die Unzufriedenheit schwarzer und verschiedener Minderheiten, ein Konflikt zwischen einer Elite mit Realitätsverlust und den schlichten Malochern und Farmern und seit Beginn des Jahrhunderts lösen sich immer wieder seltsame Präsidenten ab. Aber die USA bewegen sich trotzdem vorwärts, weil zwar jedes Rädchen ächzt, aber das System dennoch funktioniert. Wir mit unserer ewigen Stabilität bleiben hingegen immer stabiler hinter den USA und allen anderen zurück. Und unsere Stabilität kann unvermittelt weitaus tragischer enden als mit vier Toten und ein paar Verhafteten wie eben erst auf dem Kapitol.“