Kann Draghi Italien aus der Krise führen?
In Rom hat Mario Draghi die erste Hürde zur Bildung einer neuen Regierung genommen. Nach der Zusage von Berlusconis Forza Italia und des sozialdemokratischen PD stellten am Samstag auch die rechte Lega sowie die populistische Fünf-Sterne-Bewegung dem ehemaligen EZB-Chef ihre Unterstützung in Aussicht. Noch ist unklar, ob Draghi ein reines Expertenkabinett plant oder die Parteien Ministerposten erhalten.
Dahinter gähnt die große Leere
Plötzlich sind alle regierungswillig, spottet Kolumnist Ezio Mauro in La Repubblica:
„Keiner der politischen Akteure kann es sich jetzt leisten, die Verantwortung dafür übernehmen, das einzige Projekt zur Rettung des Landes zu zerstören. ... Dabei ist das schwammige Konsensbündel eher das Ergebnis von Angst als von Politik. Nach Mattarellas Entweder-Oder-Appell wurde die politische Gesellschaft als Ganzes mit ihrer Ohnmacht konfrontiert – zwar fähig, waghalsig eine Krise zu eröffnen, aber unfähig, sie zu lösen. Die Leere ist mit Händen zu greifen: Es fehlt nicht nur an Führungspersönlichkeiten und Visionen, sondern auch an Identität, Geschichte, Tradition, Werten, also an jener politischen Kultur, die in schwierigen Momenten Entscheidungen prägt und diese mit dem Schutz legitimer Interessen und der demokratischen Repräsentation begründet.“
Mehr als ein Technokrat
Für Le Monde bringt Draghi nicht nur fachliche, sondern auch politische Qualitäten mit:
„Die technischen Fähigkeiten des ehemaligen EZB-Präsidenten sind unbestreitbar und können in einer Zeit nützlich sein, in der die 209 Milliarden Euro des europäischen Konjunkturprogramms eine historische Chance bietet, einige der Schwächen des Landes zu korrigieren. Aber sie allein erklären nicht, warum Präsident Mattarella beschlossen hat, Mario Draghi zu diesem entscheidenden Zeitpunkt aus dem Ruhestand zu holen. ... Nein, die Krise, die Mario Draghi ins Geschäft gebracht hat, war vor allem politisch, und wenn er als sicherer Kandidat erschien, dann aufgrund der politischen Qualitäten, die er mit seinem Handeln bewiesen hat, als es 2011 um die Rettung des Euro ging.“
Politik und Kompetenz sind untrennbar
Zwischen Experten- und politischem Kabinett zu unterscheiden, ist Unfug, argumentiert Philosoph Massimo Cacciari in La Stampa:
„Was soll diese lächerliche Abgrenzung zwischen Politik und Kompetenz? Nach dreißig Jahren Demagogie und Populismus, sicher kein alleiniges Privileg der Rechten, hat man selbst das ABC dessen vergessen, was echte Politik ist. Es hat noch nie eine Politik gegeben, die nicht in sich selbst reale Kompetenzen hatte. So wie Wissenschaft und Technik bilden auch Politik und Kompetenz in der modernen Welt eine Einheit. Nicht unbedingt in einer Person, aber in den Organisationen, für die Politiker stehen.“
Die Macht des Geldes übernimmt
Der Soziologe Marco Revelli findet es in Il Manifesto erschreckend, dass ausgerechnet ein Banker die Krise lösen soll:
„Der Politik wurde ein Todesstoß versetzt. Nicht einer Regierung oder einer Koalition, der bereits der Atem ausgegangen war, sondern der Politik tout court. ... Bescheinigt wurde das Scheitern all ihrer Protagonisten, der Mehrheit und der Opposition, die nicht in der Lage waren, aus dem Labyrinth herauszukommen. Ein Labyrinth, in das sie ein skrupelloser politischer Pirat wie Matteo Renzi getrieben hatte, der de facto ihre kommissarische Verwaltung ankündigte und zwar durch einen 'Mann der Bank', der Mario Draghi im Grunde ist. Wenn die Annahme stimmt, dass sich der wahre Souverän im 'Ausnahmezustand' offenbart, dann ist der Souverän in unserem Fall die Macht des Geldes, in der Mensch gewordenen Form seiner Priester und Manager.“
Der richtige Mann, aber nur für kurze Zeit
Dass mit Mario Draghi nun schon zum zweiten Mal innerhalb der vergangenen zehn Jahre ein ungewählter Technokrat die Regierung in Rom führt, behagt The Guardian nicht:
„Im Gegensatz zu Mario Monti vor zehn Jahren hat Draghi als Premierminister die Möglichkeit, viel staatliches Geld auszugeben. Seine Erfahrungsgeschichte legt nahe, dass er dabei mit Bedacht vorgehen wird. Davon ausgehend, dass er ausreichend parlamentarische Unterstützung erhält, sollte seine Regierungszeit jedoch so kurz wie möglich sein. Das Hin- und Herwechseln zwischen populistischen Demagogen und trockenen Technokraten droht zum Standardmuster der italienischen Politik zu werden. Innerhalb eines Jahrzehnts auf zwei nicht gewählte politische Führer zurückzugreifen, steht keiner anständigen Demokratie gut - ganz gleich, wie ernst die Krise auch sein mag.“
Eine doppelte Chance
Draghi ist der richtige Mann, schreibt Italien-Korrespondent Dominik Straub in der Aargauer Zeitung:
„Dem Ökonomen und Finanzfachmann Draghi ist es zuzutrauen, dass er im stagnierenden, an sich selbst zweifelnden Italien jene Strukturreformen anpackt, die er selber seit Jahren anmahnt. Und er ist mit seiner Kenntnis der Brüsseler Mechanismen auch der richtige Mann, um einen Plan zur Verwendung der Milliardenzuschüsse aus dem EU-Recovery-Fund zu entwerfen. Draghi und die 209 Milliarden aus dem Fund: Eine solche Doppel-Chance wird Italien so schnell nicht wieder erhalten. Allerdings: Auch Mario Draghi muss mit dem alten Parlament regieren, das nach wie vor von zwei populistischen und tendenziell anti-europäischen Parteien dominiert wird. ... Stärker als die Mathematik ist auch 'Super-Mario' nicht.“
Zum Glück keine Neuwahlen
In einer außergewöhnlichen Situation brauchte es eine außergewöhnliche Lösung, findet El Periódico de Catalunya:
„Eine technokratische Regierung ist immer ein extremer Ausweg für eine parlamentarische Demokratie, in der der Bürgerwille und die Mehrheitsbildung in den Parlamentskammern den Vorrang haben sollten. Und trotzdem verdient die Entscheidung des Präsidenten Sergio Mattarella Applaus. ... Vorgezogene Neuwahlen hätten in der aktuellen Lage des Landes - mit einer unvergleichbar schweren sozialen Krise und nach 90.000 Todesfällen durch Covid-19 - nicht nur eine Niederlage für Italien bedeutet, sondern auch einen Grund zur Sorge für ganz Europa.“
Die europäischste aller Optionen
Während Italien hofft, hat Europa bereits einen Sieg eingefahren, analysiert EU-Korrespondent Andrea Bonanni in La Repubblica:
„In Brüssel atmet man auf, gleichwohl man sich fragt, ob Draghi in der Lage sein wird, eine ausreichend solide Mehrheit hinter sich zu bringen, um die tiefgreifenden Reformen durchzuführen, die die Voraussetzung für die EU-Hilfen bilden. … Gerade das Fehlen einer Reformstrategie war die große Schwäche der Regierung Conte. Wenn Europa Akteur auf der politischen Bühne Roms wäre (und in gewisser Weise ist es das), wäre es der Gewinner, der aus dieser Lösung der Krise hervorgeht. Nichts könnte die Sorgen ob der Unfähigkeit von Italiens Politikern, die Brüssel und die europäischen Hauptstädte seit Monaten plagen, getreuer abbilden als die Wahl Draghis.“
Ein Moment der Hoffnung
Maurizio Molinari, Chefredakteur von La Repubblica, sieht jetzt eine Chance, aus der Sackgasse zu kommen - auch für die gescheiterten Politiker:
„Es ist dramatisch. Mehr als 88.000 Tote, eine gegeißelte Wirtschaft, Hunderttausende in Konkurs gegangene Unternehmen, Millionen von Entlassung bedrohte Arbeitnehmer und der immer noch nicht an die EU-Kommission gelieferte Recovery-Plan zeigen: Das politische System hat es nicht geschafft, sich aus dem Sumpf der gegenseitigen Vetos zu befreien. ... Aber es ist auch ein Moment der Hoffnung. Denn wenn sich dieselben Parteien jetzt in der Lage zeigen, das Gefühl der nationalen Dringlichkeit zu teilen, das der Staatschef zum Ausdruck gebracht hat, und die institutionelle Regierung zu unterstützen, könnten sie Mario Draghi als Chance nutzen und zu Protagonisten der Pandemie-Überwindung und des Wiederaufbaus werden.“
Trotzdem wenig Spielraum
Draghi wird die politisch verfahrene Situation so leicht nicht überwinden können, befürchtet dagegen Gazeta Wyborcza:
„Wahrscheinlich läuft es auf eine technische Regierung unter der Leitung von Draghi hinaus. Renzi verbirgt nicht, dass eine solche Lösung ihm gut passen würde. Neben der Unterstützung von Italia Viva kann sich Draghi wohl auch auf die des Partito Democratico und der bisherigen Opposition unter Silvio Berlusconi verlassen. Aber um eine Mehrheit im Parlament zu erhalten, muss er entweder die Lega von Matteo Salvini oder die Fünf-Sterne-Bewegung überzeugen. Beides wird schwer sein. Giorgia Meloni, die Chefin der rechtsextremen Fratelli d'Italia, hat eine Zusammenarbeit bereits ausgeschlossen.“