Corona-Krise: Ist die Zeit reif für Lockerungen?
Nach Wochen und teils Monaten weitreichender Einschränkungen des öffentlichen Lebens in vielen Ländern Europas werden die Rufe nach Lockerungen der Schutzmaßnahmen vielerorts immer lauter. Gleichzeitig sorgen die neuen Virusvarianten dafür, dass die Maßnahmen nur beschränkt wirken. Europas Presse spiegelt das Dilemma, in dem sich die Regierenden befinden.
Rutte-Regierung dreht sich mit dem Wind
Die Niederlande wollen die Schutzmaßnahmen trotz steigender Infektionszahlen geringfügig lockern, der Shutdown und die Ausgangssperre bleiben aber vorerst bestehen. De Telegraaf atmet auf, ist aber zugleich auch misstrauisch:
„Die Zahl der Infektionen ist stark gestiegen. Eine dritte Welle wird als unausweichlich bezeichnet. Warum werden dann doch die Zügel locker gelassen? Rutte kommt hier mit etwas Neuem: Er appelliert an die Verantwortlichkeit der Menschen. ... Wenn das Vertrauen in den Bürger da ist, warum dann nicht früher? Das erweckt den Eindruck, dass die Regierung sich mit der Stimmung dreht, möglicherweise mit einem halben Auge auf die Wahl. Das wäre ein schlechter Ratgeber. Jede Lockerung ist mehr als willkommen. Aber bitte auf der Grundlage von solider Politik.“
Klar kommunizieren, beherzt steuern
In Deutschland werden Lockerungen derzeit noch diskutiert. Die derzeitige Stabilität der Zahlen ist trügerisch, warnt die Süddeutsche Zeitung:
„Die Aussicht auf das Ende ist alles andere als klar. Die Impfstoffe gaukeln eine Scheinsicherheit vor, die es momentan noch nicht gibt. Das gute Wetter und die allgemeine Erschöpfung tun ihr Übriges. Der Eröffnungsdruck ist enorm, die Erwartungen wachsen mit jedem Frühlingstag. Selbst wenn ein Ende der Pandemie erahnt werden kann: Es ist diese letzte Phase, die nun besonders beherzt gesteuert und über deren Gefahren in aller Klarheit kommuniziert werden muss. ... So wie zu Beginn der Pandemie eine klare Botschaft nötig war, so wird sie auch für die kommenden Monate nötig sein.“
Eintracht war von kurzer Dauer
Italien setzt die Einschränkungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vorerst fort. Doch nur elf Tage nach ihrem Antritt gibt es schon Streit in der Regierung Draghi, schimpft Corriere della Sera:
„Lega, Forza Italia, Italia Viva, ja selbst einige Repräsentanten des PD und der Cinque Stelle [sind] vereint im Kampf gegen die strengen Maßnahmen, die das Volk zermürbt haben. … Das ist kein kleines Problem: Der Kampf gegen die Pandemie ist die Basis, auf der der Neustart des Landes aufgebaut werden kann. Die Basis zu untergraben, noch bevor sie sich gefestigt hat, scheint nicht der beste Anfang zu sein. Und doch ist die Versuchung, die eben gefundene Einheit zu zerschlagen, bereits spürbar. Sie sollte abgewendet werden, bevor es zu spät ist.“
Schulöffnungen müssen ermöglicht werden
In Portugal fordert eine Gruppe von Ärzten, Wissenschaftlern, Akademikern und Fachleuten die Regierung in einem offenen Brief in Público auf, die Schulen ab Anfang März wieder zu öffnen:
„Wir sind uns der Notwendigkeit von Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie und zur Verringerung von Infektionen bewusst. ... Wir haben aber den Eindruck, dass die Wahl zwischen dem Leben älterer Menschen und der Bildung von Kindern und Jugendlichen ein Scheindilemma darstellt, und dass es möglich ist, die Rechte auf Gesundheit und Bildung in Einklang zu bringen: ... Empirische Belege zeigen, dass die Schließung von Schulen mit einem Rückgang der Fälle in der Bevölkerung verbunden ist, aber nicht essentiell für die Kontrolle der Epidemie ist. ... Die Kontrolle ist auch mit geöffneten Schulen möglich, mit den nötigen Vorsichtmaßnahmen.“
Ferien wohl wichtiger als Unterricht
In Schweden finden derzeit die Skiferien ohne Einschränkungen statt, die Skigebiete im Norden des Landes sind fast ausgebucht. Nun erwägen einige Regionen wegen steigender Infektionszahlen, die Schulen nach den Ferien vorrübergehend geschlossen zu halten. Sydsvenskan missfällt das:
„Eine Woche hin oder her kann vielleicht als nicht so wichtig erscheinen. Aber die Entscheidung, nicht von Reisen ins Gebirge auf Kosten des Unterrichts abzuraten, ist ein merkwürdiges Signal: Dass Skifahren wichtiger ist als Schule. Außerdem führt es dazu, dass die Lehrer, die während der Pandemie schon so viele Schläge haben hinnehmen müssen, wieder einmal gezwungen werden, kurzfristig ihre Planung zu ändern. Die Leidtragenden sind natürlich die Schüler.“