Sofagate: Welche Lehren muss die EU ziehen?
Die Sitzordnung ist wohl das, was vom Besuch von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und Ratspräsident Michel in Ankara in Erinnerung bleiben wird - als "Sofagate". Denn während Michel und Erdoğan nebeneinander auf zwei Stühlen Platz nahmen, bekam von der Leyen nur einen Platz auf einem seitlich stehenden Sofa. Vergleichsfotos zeigen, dass in dem Raum durchaus schon drei Männer auf drei Stühlen saßen.
Geschmacklose Geste steht für mehr
Die Europäische Union muss ihr Verhältnis zur Türkei überdenken, fordert Turun Sanomat:
„Mit dem Propagandamanöver wollte man der EU eins auswischen. Die geschmacklose Geste bleibt in Erinnerung als Kränkung von der Leyens, aller anderen Frauen und der ganzen EU. Im letzten Monat trat die Türkei aus der Istanbul-Konvention aus, mit der die Gewalt gegen Frauen bekämpft werden soll. Die Situation der Frauen in der Türkei ist schlecht und familiäre Gewalt ein ernstes Problem. Die Menschenrechtslage in der Türkei hat sich verschlechtert und unter Erdoğan ist die Demokratie spürbar untergraben worden. Die EU muss genau überlegen, in welchen Fragen und zu welchen Bedingungen sie mit der Türkei kooperieren will.“
Europa hat ein Führungsproblem
Für Le Soir zeigt der Vorfall deutlich, dass die EU eine klarere Rollenverteilung braucht, vor allem in der Außenpolitik:
„Die Episode zeigt auf schmerzhafte Weise ein systemisches Problem auf, das sich seit dem berühmten Ausspruch des Amerikaners Kissinger nicht verbessert hat: 'Europa: welche Telefonnummer?' ... 2017 sorgte der damalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit einem Vorschlag für Furore: Was wäre, wenn 'das europäische Schiff von einem einzigen Kapitän gelenkt' würde? Es blieb bei der Vorstellung. In der Zwischenzeit wird das Problem durch die offensichtliche Rivalität zwischen Michel und von der Leyen (und ihrer jeweiligen Entourage) auf der internationalen Bühne verschärft. Die früheren Tandems funktionierten besser.“
Peinliches Gezanke
Hinter dem Sofagate steckt auch Kompetenzgerangel innerhalb der EU, analysiert De Volkskrant:
„Das Bild, das weltweit hängen bleibt, ist das von einer zankenden, schwachen EU. Während Kommissionsbeamte den Geltungsdrang von Michel als Ursache des Streits anführen, machen die Mitarbeiter des EU-Ratspräsidenten die knallharte Position von der Leyens verantwortlich. ... Zwar ist etwas Spannung zwischen Michel und von der Leyen unvermeidlich, sind doch beide qua Funktion 'das Gesicht' der Union. ... Doch der Geltungsdrang von Michel und von der Leyen ist größer [als bei ihren Vorgängern]. ... Und die Verhältnisse haben sich geändert. Die EU ist immer mehr eine Chefsache, eine Angelegenheit der Regierungschefs. ... Das macht Michels Stellung nicht gerade beneidenswert: 27 Führer über ihm, eine starke Kommissionsvorsitzende neben ihm.“
Vielleicht doch nur ein protokollarischer Patzer
Večernji list weiß noch nicht ganz, wie der Vorfall zu deuten ist:
„Es ist unklar, ob Erdoğan dies mit Absicht getan hat, aus politischem Kalkül, um die Kommissionspräsidentin als Frau zu erniedrigen und gleichzeitig auch die EU, die sich in den letzten Tagen wegen des Rückzugs der Türkei aus der Istanbul-Konvention zur Verhinderung von Gewalt an Frauen beschwert hat. Oder ob der Fehler nur protokollarisch war, ohne tieferes Kalkül, was laut einigen Interpretationen auch möglich ist. Denn Charles Michel repräsentiert als Präsident des Europäischen Rates alle 27 Mitgliedsstaaten und Ursula von der Leyen die Kommission als Exekutive der Europa-Administration, weshalb das Protokoll die beiden entsprechend ihrer Wichtigkeit platziert hat.“
EU lässt sich erneut vorführen
Eindeutiger ist da die Wiener Zeitung. Sie kritisiert, dass die EU in der Außenpolitik bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr patzt:
„Die gezielte Brüskierung von der Leyens ... passt … ins Bild der tatsächlichen türkisch-europäischen Beziehungen. … Umso ernüchternder ist, dass Michel, statt seiner europäischen Präsidenten-Kollegin beizustehen …, einfach selbst neben Erdogan Platz nahm. Die Auftritte der EU-Spitzen in autoritären Drittstaaten stehen derzeit unter keinem guten Stern: Im Februar die öffentliche Vorführung von EU-Außenkommissar Josep Borrell in Moskau … und jetzt die Brüskierung der einen EU-Spitze durch Erdogan im Beisein der anderen. Gerade in der Diplomatie lassen sich mit kleinen Gesten Stärke und Entschlossenheit zeigen. Das hat die EU einmal mehr zum eigenen Schaden versäumt.“
In der Falle des Patriarchen
Völlig konsterniert angesichts von Michels Verhalten zeigt sich auch die Aargauer Zeitung:
„Die Bildsprache war klar: Hier sprechen die Männer, die Frau sitzt am Rande. ... War das eine gezielte Provokation des Patriarchen Erdogan? Möglich ist es. … Jedes noch so kleine Detail fällt politisch ins Gewicht. Eine besonders schlechte Figur gab Ratspräsident Charles Michel ab. Im entscheidenden Moment hat er überhaupt keine Anstalten gemacht, seinen Platz freizuräumen oder sich sonst wie bemerkbar zu machen. Im Gegenteil: Er hat seine Kollegin eiskalt in die Macho-Falle laufen lassen.“
Metapher für schlimmere Zugeständnisse
Die EU muss jetzt eine klare Reaktion zeigen, drängt Avvenire, und darf nicht zulassen,
„dass der Fauxpas der Zeremonie zur öffentlichen Akzeptanz einer respektlosen und im Grunde inakzeptablen Behandlung wird. Es geht bei dem 'Sofa-Gate' um eine Haltung, die wir nicht tolerieren können, weil sie Hand in Hand geht mit einer Reihe anderer Rechtsverletzungen durch Erdoğans Regierung. ... Die Tatsache zu tolerieren, dass die Chefin einer der europäischen Institutionen diskriminiert wird, weil sie eine Frau ist (auch wenn jetzt irgendwelche Rechtfertigungen vorgebracht wird, um diese Interpretation der Episode zu leugnen), kann als Metapher für schlimmere Zugeständnisse gedeutet werden.“