Borrell-Besuch: Kann sich Moskau alles erlauben?
Eigentlich war der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell vergangene Woche nach Moskau gereist, um den Dialog zu umstrittenen Themen wie Nawalnys Inhaftierung zu suchen. Doch noch während der Pressekonferenz mit Außenminister Lawrow wies Russland drei EU-Diplomaten aus. Kommentatoren sind erschüttert über diesen Affront und die Schwäche der europäischen Staatengemeinschaft. Einige sehen aber auch Chancen.
Über Sputnik zurück zum Dialog
Die Pandemie könnte Chancen eröffnen, die Eiszeit zu beenden, glaubt die taz:
„Erinnert sei nur an die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA, wo sich Wladimir Putin und George W. Bush – wahrlich kein Dreamteam – plötzlich Seite an Seite im Kampf gegen den islamischen Terror wiederfanden. Jetzt heißt ein Feind Covid-19 und die russische 'Wunderwaffe' Sputnik V. Auch wenn Litauens Regierungschefin Ingrida Šimonytė den Kauf des Impfstoffs ablehnt und den Kreml beschuldigt, mit der Spritze Geopolitik betreiben zu wollen: Zu testen, ob Sputnik mehr vermag, als gegen Krankheit und Tod zu immunisieren, wäre einen Versuch wert. Und dann wäre die Pandemie, anders als gedacht, vielleicht sogar eine Chance.“
EU muss umgehend Sanktionen verhängen
Der rumänische Parlamentsabgeordnete Matei Dobrovie fordert in Adevărul klare Kante von der EU:
„Nach der Vergiftung von Alexej Nawalny und seiner Verhaftung und Verurteilung muss die Reaktion der EU eine entschlossene sein: Sanktionen! Wir haben nichts mehr mit einem autoritär kriminellen Regime zu diskutieren, das die Grundrechte und die Meinungsfreiheit mit Füßen tritt und jegliche Opposition brutal unterdrückt. Über 5.000 Menschen wurden in ganz Russland festgenommen, nur weil sie gegen Korruption und Menschenrechtsverletzungen protestierten – das ist inakzeptabel. Diese Menschen müssen umgehend freigelassen werden. Das sollte die Botschaft der EU sein. … Sie muss ihr Verhalten gegenüber Russland radikal ändern, andernfalls wird sie völlig diskreditiert.“
Tacheles braucht Rückhalt
Borrells schwacher Auftritt ist nicht ihm selbst zuzuschreiben, meint El País:
„Am Tag von Borrells Moskau-Besuch telefonierte US-Außenminister Antony Blinken mit seinem chinesischen Amtskollegen und redete nach eigener Darstellung auf Twitter Klartext darüber, dass der USA nicht die Hand zittern werde, wenn es darum ginge, die eigenen Interessen und die Demokratie zu verteidigen, sowie Peking für dessen Verstöße zu kritisieren. Die Verfolgung der muslimischen Minderheit der Uiguren bezeichnete Blinken als 'Völkermord'. Es gibt keinen Grund dafür, dass Demokratien den Mund halten müssen, schon gar nicht in einem historischen Moment wie diesem. Der Unterschied und das Problem bestehen darin, dass Blinken eine geschlossene Regierung und eine militärische Macht hinter sich weiß und Borrell nur eine zerstrittene Gruppe von 27 Mitgliedsstaaten.“
Der Verlierer sitzt im Kreml
Der Besuch war zweifellos eine Niederlage, aber nicht für die EU, meint Népszava:
„Russlands Präsident zappelt in der eigenen Falle. Er bricht die letzten Brücken, die ihn mit der zivilisierten Welt verbinden, wie eine außer Kontrolle geratene Kanonenkugel ab. Sein größter Schmerz ist, dass er an die Peripherie gedrängt wird. Das frustriert ihn seit Jahren enorm. ... Putin wollte die EU demütigen, jedoch hat er damit nur die eigene Isolation weiter vertieft.“
Im Kreml knallen die Korken
Die EU lässt sich von Moskau erniedrigen, schimpft Edward Lucas auf Alfa:
„Man sollte nicht vergessen, dass die EU dreimal so viele Einwohner und ein zehnmal so großes Bruttoinlandsprodukt hat wie Russland. Ungeachtet dessen benahm sich Borrell in Moskau wie ein Bettler. Er erlaubte dem Lügen-Großmeister Lawrow, die gemeinsame Pressekonferenz zu dominieren und nach seinem Plan verlaufen zu lassen. ... Eine noch größere Erniedrigung erlebte Borrell, als Russland während seines Besuches drei EU-Diplomaten auswies. Auf dem Weg nach Hause bloggte Borrell zwar, die EU werde das 'bedauernswerte' Verhalten Russlands sorgfältig analysieren. ... Doch derweil redet in Deutschland der neue CDU-Chef Laschet davon, dass ein Streit mit Russland Nord Stream 2 nicht bedrohen sollte. Vom österreichischen Kanzler Kurz kommt Unterstützung. Moskau lässt die Knorken knallen.“
Dialog ist nicht beabsichtigt
Der Besuch bringt immerhin Klarheit, resümiert Le Monde:
„Es ist eine richtige Ohrfeige - eine Demütigung für den ehemaligen spanischen Außenminister und Ausdruck der totalen Verachtung für sein Amt, dessen Schwäche hier hervorgehoben wird. ... Indem er sich in einer Zeit extremer politischer Spannungen in Russland in die Höhle des Löwen begab, unterschätzte Josep Borrell den Zynismus des Regimes von Wladimir Putin und überschätzte seine eigene Fähigkeit, damit umzugehen. ... Die Botschaft, die die russische Führung bei diesem desaströsen Besuch bekräftigte, ist, dass sie nicht die Absicht hat, sich auf einen Dialog mit der EU einzulassen. Für diejenigen, die noch Zweifel daran hatten, ist das jetzt klar.“
Europa hat es immer noch nicht begriffen
Die Reise des EU-Diplomaten war völlig umsonst, bedauert Ukrajinska Prawda:
„Keine der roten Linien bezüglich der Ukraine hat sich verschoben, aber einen Sinn, darüber mit Russland zu sprechen, scheint die EU nicht mehr zu sehen, weil hier niemand jemanden überzeugen wird. ... So wird dies nun auch mit den Menschenrechtsverletzungen in Russland ablaufen. Auch sie werden die Opfer des Wunsches der europäischen Hauptstädte sein, 'den Dialog trotz der Differenzen fortzusetzen'. Das sind übrigens die Worte, die Angela Merkel verwendete, als sie die Ausweisung von deutschen Diplomaten durch Russland kommentierte. “
Jetzt wird härter zugepackt
Am Umgang mit Borrell lässt sich einiges über Moskaus künftige Politik ablesen, erklärt Helsingin Sanomat:
„Jetzt ist klar, dass die EU einem noch gefährlicheren Russland gegenübersteht. Deshalb muss sie noch geschlossener auftreten. Die russische Führung ist auf neue Art herausgefordert. Der Volksaufstand in Belarus hat die Machtclique erschreckt. ... Mit Nawalnys Rückkehr und dem jetzt in Russland zirkulierenden Video, das die Korruption von Putins inneren Zirkeln aufdeckt, begann der Ärger richtig. Russlands Ausrichtung wird sicherlich nicht auf der Straße entschieden. Putin hat Zeit und Geld in den Aufbau einer Maschinerie mit Nationalgarde und elektronischer Überwachung zur Sicherung seiner Macht investiert. Bisher ist die Unterdrückungsmaschinerie nur auf halber Kraft gelaufen, aber jetzt wird härter zugepackt.“
Fall Belarus gibt Putin Sicherheit
Eine ernsthafte Reaktion der EU braucht Putin im Fall neuer Repressionen jedenfalls nicht zu fürchten, prophezeit Rzeczpospolita:
„Putin hat die Reaktion des Westens auf demokratische Aufstände, zuerst in Venezuela und dann in Belarus, sorgfältig analysiert. Und er kam zu einem einfachen Schluss: Wenn er die Proteste nach der Inhaftierung von Alexej Nawalny rücksichtslos verstummen lässt, riskiert er nichts. Im Januar 2019 erkannte Donald Trump den venezolanischen Oppositionsführer Juan Guaidó als Präsidenten an, aber das änderte wenig. ... Selbst viele Monate mutiger Proteste in Belarus haben die EU nicht dazu veranlasst, ernsthafte Sanktionen gegen das Regime von Alexander Lukaschenka zu verhängen.“