Geisterstadt Varosha: Schafft Erdoğan Tatsachen?
Zum Jahrestag des Einmarschs türkischer Truppen 1974 hat Erdoğan Varosha im besetzten Nordteil Zyperns besucht. Varosha, aus der die Zyperngriechen damals flohen, ist heute als Geisterstadt im militärischen Sperrgebiet Sinnbild der Teilung Zyperns. Erdoğan treibt ihre Öffnung trotz internationaler Kritik voran.
Keine Kraft mehr für Protest
Der Kolumnist Giorgos Kallinikou wünscht sich in Phileleftheros eine härtere Reaktion von Seiten der zyperngriechischen Bevölkerung:
„Die Tausenden rechtmäßigen Einwohner [Varoshas]? Wo sind sie? Die Hunderttausenden von Zyperngriechen? Ist das nicht der Ort, an den wir alle gehen sollten? Auch hinter dem Stacheldraht? Einhundert, zweihundert, dreihunderttausend... Lasst uns unsere Stimmen vereinen. Dem Vergewaltiger zurufen: 'Das ist unser Heimatland.' Aber es gibt keinen Platz mehr für Illusionen. Wir finden nicht einmal mehr die Kraft, zu protestieren. Sie haben es geschafft. Es ist also doch kein Winterschlaf. Wir haben falsch gedacht. Es ist eine komplette Lähmung.“
Nicht das Massaker an Zyperntürken vergessen
Der Intervention und anschließenden Besetzung des Nordens Zyperns durch türkisches Militär war ein Putsch gegen die auf Ausgleich zwischen den Ethnien ausgerichtete Regierung vorausgegangen. Diese sollte die vorhergehenden blutigen Auseinandersetzungen beruhigen. Cumhuriyet erinnert an diese Ereignisse:
„Es ist bekannt, dass es mit der am 16. August 1960 gegründeten Republik Zypern, die eine gleichberechtigte Partnerschaft zwischen Türken und Griechen vorsah, nicht lange gut ging. ... Von Griechenland unterstützte örtliche zyperngriechische Terrorgruppen erklärten sich zu den alleinigen Besitzern der Insel. Ihre Angriffe rechtfertigten sie mit der Lüge, dass die Türken sich gegen die rechtmäßige Regierung aufgelehnt hätten. Sie gewannen eine Basis, indem sie unbeteiligte Staaten und die internationale Öffentlichkeit für diese Lügen instrumentalisierten. Sie begingen einen grausamen Völkermord an den Türken.“
Noch mehr Drohpotential
Die Öffnung von Varosha wird als weiteres Druckmittel in den Verhandlungen über die Zypernfrage dienen, schreibt Kathimerini:
„Im September bei der UN-Vollversammlung oder etwas später werden die Diskussionen wieder aufgenommen. Wobei nun gedroht wird, dass beim nächsten Mal größere Teile von Varosha geöffnet werden. Dass ein Scheitern zu zwei Staaten führen würde. Und dass die Republik Zypern marginalisiert wird und an der militärischen Umklammerung im östlichen Mittelmeer erstickt. ... Dieser Druck ist nicht nur auf Nikosia beschränkt, sondern kann sich leicht auf Athen ausdehnen - das seine Beziehungen zu Ankara gerade mühsam wieder herstellt.“
Tatar wird an die Front geschickt
Zurückhaltung auf Seiten Erdoğans beobachtet Cyprus Mail:
„Ankara geht in Bezug auf Varosha vorerst eher vorsichtig vor und überlässt Tatar die vermeintliche Verantwortung für die Öffnung Varoshas. Erdoğan hat erkannt, dass jeder große Schritt, wie er vor einem Jahr angekündigt wurde, eine Reaktion der internationalen Gemeinschaft hervorrufen würde. Er will nicht riskieren, dass die EU, die eine sehr klare Position gegen die Öffnung eingenommen hat, die versprochenen finanziellen Hilfen zurückzieht, und könnte auch unter Druck der USA geraten sein. Dies könnte erklären, warum er sich darauf beschränkt hat, das Thema positiv darzustellen und zu sagen, dass alle davon profitieren würden.“
Die 82. türkische Provinz
Das Narrativ vom unabhängigen Staat Nordzypern kann sich die Regierung in Ankara sparen, bemerkt Evrensel:
„Die AKP-Regierung … behandelt Nordzypern ganz offen als 82. Provinz. Sie entscheidet und setzt Dinge um - manchmal auch ohne das Wissen der lokalen Verantwortlichen. Sie hat direkt in die letzten Wahlen eingegriffen. Tatar hat sie als AKP-Kandidaten präsentiert, die anderen Kandidaten wurden eingeschüchtert. … Präsidentenberater und hohe Funktionäre der AKP sind nach Zypern gereist und haben persönlich den Wahlkampf Tatars organisiert. Zyprischen Oppositionellen wurde die Einreise in die Türkei verweigert. Mit den letzten Schritten hat Erdoğan offen gezeigt, dass er die angebliche Unabhängigkeit Nordzyperns ignoriert.“
Nordzypern alles andere als einig
Dass Nordzypern keineswegs geschlossen hinter Erdoğans Kurs steht, betont Duma:
„Erdoğan hatte für den 19. Und 20. Juli einen triumphalen Besuch in der nicht anerkannten Türkischen Republik Nordzypern geplant. Doch dieser wurde ausgerechnet vom Verhalten eines Teils der politischen Elite der Gastgeber überschattet. ... Die Abgeordneten der größten Oppositionspartei, der Türkischen Republikanischen Partei, ebenso wie die der Sozialdemokratischen Partei boykottierten Erdoğans Rede im Parlament, in der er seine Pläne für Nordzypern erläuterte. Auch die ehemaligen Präsidenten Mustafa Akıncı und Mehmet Ali Talat betraten den Saal nicht. Sie verlangen die föderale Wiedervereinigung Zyperns und lehnen Ankaras Einmischung in nordzypriotische Angelegenheiten ab. Stößt der Neo-Osmanismus in Nordzypern auf ernsthaften Widerstand?“
Untätigkeit besiegelt die Teilung
Die türkisch-zyprischen Behörden haben vergangenes Jahr Varosha für Touristen geöffnet und mit ersten Renovierungen begonnen. Dies ist das Ergebnis der Politik Nikosias, kritisiert Dialogos:
„Leider zahlen wir für die Untätigkeit von Präsident Anastasiadis und seine katastrophale Politik der letzten acht Jahre. … Nicht nur, dass man keine Schritte vorwärts unternommen und die kompromisslose Haltung der Türkei und der türkischen Seite kritiklos hingenommen hat. Nein, es gab zudem einen schweren Rückschlag und eine Abweichung von der Grundlage für eine Lösung des Zypernproblems. … Die Zeit läuft uns davon, da Fakten geschaffen werden, die nicht rückgängig gemacht werden können. Bis wir uns dessen bewusst sind, wird Varosha verloren sein. Anstatt eines Schlüssels zu einer Gesamtlösung wird es zum Schlüssel der endgültigen Teilung - mit dem Siegel von Nikos Anastasiadis!“
Nötig ist eine dreifache Front
Athen muss jetzt die Reihen gegen Ankara schließen, drängt Ta Nea:
„Angesichts der revisionistischen (und expansionistischen) geopolitischen Haltung Ankaras ist es außerordentlich wichtig, nicht gespalten zu sein oder auch nur so zu wirken, sondern vereint auf die destabilisierenden Schritte der Türkei zu reagieren. … Griechenland muss eine dreifache solide Front schaffen. Erstens muss es eine gemeinsame Linie aller politischen Kräfte in Griechenland geben. Die zweite gemeinsame Front ist die von Athen und Nikosia. ... Die dritte entscheidende Front ist Athen-Nikosia-Brüssel. Hier muss ganz klar gesagt werden, dass das Zypernproblem kein bilaterales, sondern ein internationales Thema ist, das die territoriale Integrität der EU betrifft.“
Tatsachen schaffen ist einfach effizienter
Die Türkei ist in den letzten Jahren zu einem wichtigen internationalen Player geworden und der Vorstoß in der Zypernfrage daher nur folgerichtig, findet die regierungstreue Tageszeitung Takvim:
„Es ist nicht überraschend, dass die Türkei angesichts ihres zunehmenden Einflusses in der Region und der Welt auch mit Blick auf Nordzypern einen Schritt vorhat. Dafür benötigt sie von niemandem eine Erlaubnis - wie es auch in Syrien, Libyen, im östlichen Mittelmeer und in Berg-Karabach der Fall war. ... Das bedeutet nicht, unverantwortlich zu handeln oder die internationale Gemeinschaft zu ignorieren. Aber die internationalen Beziehungen haben sich in eine Richtung entwickelt, in denen es eine effiziente Methode ist, eine De-facto-Situation herzustellen und darüber dann die anderen Akteure an den Verhandlungstisch zu bringen.“
Türkei will sich Verhandlungsspielraum sichern
Wirtschaftswissenschaftler Güven Sak analysiert in Hürriyet Daily News die Verhandlungsposition Ankaras:
„Es scheint einige Leute zu geben, die über die neue türkische Linie bezüglich einer Zwei-Staaten-Lösung und der Öffnung von Varosha empört sind. Was dachten sie, was passieren würde? Da sie ausgeschlossen war, musste die türkische Seite alternative Pläne machen. Die erste Regel jeder Verhandlung ist, dass man in der Lage sein muss, den Verhandlungstisch zu verlassen. Wenn Sie mich fragen, soll die Forderung nach einer Zwei-Staaten-Lösung die griechischen Zyprer zurück an den Verhandlungstisch bringen.“