Warum nehmen Corona-Proteste wieder Fahrt auf?
In Frankreich haben am Wochenende 160.000 Menschen gegen neue Corona-Beschränkungen demonstriert, auch in Italien und Griechenland gab es Großdemos. Athen und Paris hatten eine Impfpflicht im Gesundheitswesen verhängt, in Italien sollen Kinos und Restaurants, in Frankreich Einkaufszentren und Öffentlicher Verkehr nur noch Geimpften und Getesteten offenstehen. Aber um konkrete Maßnahmen geht es wohl gar nicht so sehr, meint Europas Presse.
Nachvollziehbar und doch falsch
Die Proteste gegen Covid-Impfungen in mehreren europäischen Ländern betrachtet Duma mit gemischten Gefühlen:
„Einerseits ist die Wut der Protestierenden berechtigt. Die Regierungen haben im vergangenen Jahr die Relevanz des Virus unterschätzt. Jetzt wollen sie den Fehler korrigieren, doch die Menschen haben die Geduld verloren. Weder die Maßnahmen noch die Impfstoffe haben sich als wirksam genug erwiesen, obwohl sie die Ausbreitung der Pandemie einigermaßen eingeschränkt haben. Andererseits ist die Wut der Protestierenden nicht berechtigt, denn die Bedrohung besteht nach wie vor. Die Erinnerung an die mehr als vier Millionen Menschen, die an Covid-19 gestorben sind, ist noch frisch.“
Die Rechte auf Stimmenfang
Dass Italiens rechte Parteien die Proteste unterstützen, kritisiert der Politologe Angelo Panebianco in Corriere della Sera:
„Der wahrscheinlichste Grund ist, dass sie ein interessantes Stimmenreservoir in jenem - leider, wie es scheint, recht großen - Teil unserer Mitbürger gefunden haben, die für die eine oder andere Verschwörungstheorie anfällig sind. ... Diejenigen, die diese Menschen hofieren, tragen dazu bei, die Voraussetzungen zu schwächen, auf denen eine freie Gesellschaft ruht. Verschwörungstheorien und die Ablehnung von Wissenschaft bringen die Mechanismen einer solchen Gesellschaft durcheinander, die von empfindlichen Gleichgewichten lebt, und zwar vom Vertrauen in die Kompetenz derer, die mehr wissen als wir. Und sie lebt von der Notwendigkeit, Wissen und demokratische Repräsentation zu verbinden.“
Impfdebatte nur ein Krisensymptom
Der Streit über die Impfpolitik ist ein weiterer Ausdruck tief liegender gesellschaftlicher Spannungen, beobachtet der frühere Diplomat Gérard Araud in Le Point:
„Covid hin oder her - wir kommen zur Notwendigkeit zurück, die Krise zu bewältigen, die das Funktionieren unserer Demokratien zermürbt. Als denkbare Lösungen haben wir einerseits das frontale und gewollte Aufeinanderprallen von Populisten und ihren Gegnern, andererseits das Suchen nach Antworten auf Ängste und Forderungen eines Teils unserer Mitbürger. Ist es nicht möglich, in Washington, London, Paris und anderswo einen Weg zu finden, der letzteres schafft, ohne die Werte zu leugnen, auf denen unsere liberale Demokratie fußt? ... Von dieser Frage hängt die Zukunft unserer Gesellschaften ab. Die absurde Debatte über Impfungen ist nur ein Symptom, aber nicht die Krankheit.“
Gerade jetzt den Kurs halten
Parallel zur neuen Protestwelle hat Frankreich die Schwelle von 60 Prozent Geimpfter unter den Erwachsenen erreicht. Für L'Opinion Grund genug, dass Paris an seiner Strategie festhalten sollte:
„Diese Schwelle war der von den Ärzten anvisierte Wert, um Herdenimmunität zu erreichen und auf ein allmähliches Verschwinden von Sars-CoV-2 zu hoffen, bevor die Varianten die Karten neu gemischt haben. Nun ist es eine Art Etappensieg. … Zum Glück hängt der Wettlauf gegen die Mutanten weniger von den Zehntausenden auf den Straßen ab als von den Millionen Franzosen, die aufgrund logistischer, nicht ideologischer Gründe noch keine Impfung erhalten haben. … Die Strategie funktioniert, gerade jetzt darf man nicht schwächeln.“
Mit Transparenz überzeugen
Die Zweifel der Bürger ernst zu nehmen und mit ehrlicher Kommunikation auszuräumen, ist die einzige Alternative, meint La Vanguardia:
„Zunächst müssen wir die Vertrauensbasis zwischen Regierenden und Regierten wiederherstellen. Die Staaten und die Wissenschaftler müssen viel besser erklären, wie die Impfstoffe hergestellt werden und funktionieren. Um die Skeptiker zu überzeugen, müssen sie transparenter und verständnisvoller sein. Das bisherige Vorgehen, Patente zu schützen und Verträge mit Konzernen zu verheimlichen, hilft da nicht weiter. Im Gegenteil: Es beflügelt Verschwörungstheorien. Man muss dringend den Diskurs ändern.“