USA: Afghanistan-Einsatz vorbei, Weltbühne adieu?
Die USA haben ihren Einsatz in Afghanistan abgeschlossen: Am frühen Dienstagmorgen verließen die letzten Truppen Kabul. Europas Presse fragt sich nun, wie das Evakuierungs-Chaos der letzten Tage und das Scheitern der Intervention insgesamt zu bewerten sind - im Bezug auf die US-Strategie und die Rolle Europas. Einen Rückzug Amerikas von der Weltbühne sehen einige, nur eine Neuausrichtung andere.
Zurück zum Isolationismus
Die USA wollen und können nicht mehr Weltpolizist spielen, meint die SonntagsZeitung:
„Seit den 1960ern ist die Kluft zwischen der sicherheitspolitischen Elite und den von ihnen vertretenen Bürgerinnen und Bürgern weiter aufgegangen. Vor allem ist in den USA die politische Spaltung abgrundtief geworden. ... Darunter leidet die amerikanische Handlungsfähigkeit auf der Weltbühne. Kein US-Präsident ist mehr in der Lage, eine aussenpolitische Strategie zu entwerfen, die über den nächsten Wahltermin hinausdenkt. Innen- und wahlkampfpolitische Erwägungen haben immer Vorrang. ... Die jammervolle Niederlage von Kabul spiegelt ... eine Supermacht, die nicht mehr die Führungsnation spielen will, die diese Rolle immer weniger gut beherrscht und der das dafür nötige Geld ausgeht.“
Europäische Profilsuche in stürmischen Zeiten
Die Art und Weise, wie die USA unter Biden den Rückzug organisiert haben, hat in Europa neues Misstrauen geweckt, analysiert Delo:
„Es gab keine wirkliche Koordination. Damit wurde noch deutlicher, wie wenig die Stimme der europäischen Verbündeten im transatlantischen Bündnis zählt. Die Katastrophe am Hindukusch ist ein gemeinsames Scheitern, und die europäischen Länder werden daraus lernen müssen. Die neue Sinngebung Europas als unabhängiger Akteur findet in einer dramatischen Zeit des rasanten Aufstiegs Chinas und der Entfremdung von den USA statt. Und auch innerhalb der Union bröckelt das Fundament, wegen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedstaaten und der Untergrabung der Grundprinzipien der EU.“
Viel Muskeln, wenig Hirn
Ria Nowosti sieht die USA in Afghanistan eher intellektuell als militärisch gescheitert:
„Das war ein echtes Fiasko: Alle haben gesehen, wie unfähig zur objektiven Realitätseinschätzung die Amerikaner sind. Diesen Schluss hat man in aller Welt gezogen - und das wird Folgen für die Staaten haben. Nicht nur in Sachen Reputation, sondern ganz konkrete geopolitische. Stark sind die USA noch, sie können binnen zwei Wochen eine Evakuierung von über 120.000 Menschen organisieren. Aber das Hirn, um das Entstehen einer solchen Situation zu verhindern, fehlt. Das Sprichwort 'Wer stark ist, braucht nicht klug zu sein' passt hier nicht. Denn es kommt der Moment, an dem hirnlose Stärke nichts als Probleme schafft - vorrangig für einen selbst.“
Nur eine Verschiebung von Prioritäten
Die USA sollten nicht vorschnell abgeschrieben werden, meint die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Tatsächlich dürfte der amerikanische Rückzug die militärische Handlungsfähigkeit Amerikas sogar vergrößern. Obwohl der eigentliche Kampfeinsatz in Afghanistan schon 2014 beendet wurde, waren die Amerikaner bis zum Schluss operativ in dem Land gebunden. ... Genau das war ja das Ziel, das der amerikanische Präsident mit dem Rückzug verfolgt, den schon seine beiden Vorgänger gerne vollzogen hätten. Er will Freiräume für die neue Priorität der amerikanischen Außenpolitik gewinnen: die Auseinandersetzung mit China.“
Militärinterventionen nicht das einzige Machtmittel
Auch Új Szó glaubt nicht, dass der Abzug der US-Truppen bedeutet, dass Washington das Handtuch geworfen hat:
„Die USA haben ihre starke Bemühungen, die Weltordnung zu bestimmen, nicht aufgegeben. ... Die Interventionsfähigkeit - die Projektion von Gewalt - ist wichtig, aber es gibt viele Möglichkeiten, dies zu tun, ohne dass sich das Militär einmischt. ... Eigentlich hätten die USA nach der Bombadierung von Al-Qaida und dem Umsturz der Taliban auch nur mit einem Stellvertreterkrieg für ihre Präsenz in Afghanistan sorgen können.“