Linksrutsch in Chile: Eint ein 35-Jähriger das Land?
Chile hat den einstigen Studentenführer Gabriel Boric Font zum Präsidenten gewählt. Der 35-Jährige war für eine breite Links-Koalition unter dem Namen Apruebo Dignidad (Ich bin für die Würde) angetreten. Nun will er das Bildungs- und Gesundheitssystem reformieren, Wohnraum schaffen, Frauen und Indigene fördern, Drogenkartelle bekämpfen und die Steuern erhöhen. Europas Presse traut ihm einiges zu.
Boric festigt die neue Linke
La Vanguardia hofft auf eine Umorientierung des Landes:
„Chile hat sich entschieden, mit der Vergangenheit zu brechen und eine gemäßigte linke Politik zu verfolgen. ... Chile war nach dem Pinochet-Putsch die Wiege des neoliberalen Modells und der Privatisierungen, doch das generierte Wirtschaftswachstum beseitigte die Ungleichheiten nicht. Deshalb setzt das Land nun auf einen Aufschwung, der auf der Schaffung universeller öffentlicher Dienstleistungen, der Förderung grüner Energie und der Wiederherstellung des politischen und sozialen Klimas beruht. ... Mit Borics Sieg festigt eine neue Linke, die in Argentinien, Peru und Bolivien regiert, ihre Position in Südamerika.“
Gut gerüstet gegen Destabilisierung
Boric weiß wichtige Verbündete auf seiner Seite, freut sich Le Courrier:
„Das Projekt - Stärkung der öffentlichen Dienste, Einführung von solidarischen Renten, Frauenrechten, progressive Besteuerung, Anhebung des Mindestlohns, Umweltschutz, Senkung der Arbeitszeit, Dezentralisierung - stimmt mit den Forderungen der Straße und eines Großteils der verfassunggebenden Versammlung überein. ... Verbündete, die entscheidend sein können bei möglichen Destabilisierungsversuchen, juristischen oder parlamentarischen Manövern. Eine Schlüsselrolle wird auch die Fähigkeit der verfassunggebenden Versammlung spielen, kommendes Jahr eine Verfassung vorzulegen, die die Mehrheit der Chilenen vereinigt und so die letzten Spuren der Pinochet-Ära beseitigt.“
Harter Linkskurs wäre fatal
Allzu radikale Steuererhöhungen würden schweren wirtschaftlichen Schaden anrichten, warnt Financial Times:
„Investoren sind nervös, Kapital wird aus dem Land abgezogen, und die überhitzte Wirtschaft wird im nächsten Jahr schnell abkühlen. All dies sind starke Argumente für einen gemäßigteren Kurs, der durch die Wahl eines pragmatisch orientierten Finanzministers bestätigt werden sollte. Chiles Steuerquote mag mit 19,3 Prozent des BIP im Jahr 2020 tatsächlich vergleichsweise niedrig sein. Es gibt gute Gründe für eine Erhöhung. Doch Brasilien und Argentinien, wo die Staatseinnahmen viel höher sind, sind abschreckende Beispiele dafür, was schiefgehen kann, wenn ein aufgeblähter Staat seine Ressourcen vergeudet.“
Ein nützlicher Partner
Europa könnte in Boric einen guten Vermittler finden, glaubt Lateinamerika-Korrespondent Tobias Käufer in der Tageszeitung Die Welt:
„Boric könnte zu einem Partner des Westens werden, wenn es darum geht, das Recht auf freie, transparente Wahlen in der Region durchzusetzen. Der neue Präsident hat bewiesen, dass man Wahlen auch als ein Linker gewinnen kann, der linke Repression kritisiert. ... Auch westliche Unternehmen dürften ein Interesse an seinem Erfolg haben. Denn wenn es gelingt, in Zeiten der Klimadebatte eine Politik umzusetzen, die die Rechte der indigenen Völker und der Natur gleichermaßen berücksichtigt, dann wären die von westlichen NGOs kritisierten Freihandelsverträge zwischen Europa und Lateinamerika wieder vermittel- und durchsetzbar.“
Jetzt muss die Welle nur noch überschwappen
Dass der Linksrutsch endlich auch Europa erfasst, hofft Duma:
„Die linke Welle erfasst den südamerikanischen Kontinent und es gibt kein Zurück mehr. Nächstes Jahr stehen Präsidentschaftswahlen in anderen Ländern an, und es ist fast sicher, dass Brasilien wieder auf links wechselt. Die Frage ist: Wann passiert dasselbe in Europa? Dieses Jahr war auch für die Sozialisten der Alten Welt relativ gut, aber sie haben noch einen langen Weg vor sich. Positiv zu werten ist, dass Vorzeige-Länder wie Deutschland, Schweden und Norwegen bereits mit gutem Beispiel vorangehen.“