Militärmanöver in Belarus: Die Sorge wächst
Angesichts des großen Militärmanövers von Russland und Belarus nahe Polen und der Ukraine verschärfen sich Tonlage und Ängste: US-Präsident Biden forderte die US-Bürger zum sofortigen Verlassen der Ukraine auf und Nato-Generalsekretär Stoltenberg bezeichnete die derzeitige Lage als "gefährlichen Moment". Kommentatoren beleuchten osteuropäische Sichtweisen.
Bedrückende Stimmung
Der Chefredakteur von Maaleht, Hindrek Riikoja, ist besorgt wegen der Spannungen, die auch den Alltag der Esten bedrücken:
„Das Schlimmste ist das Warten. ... Warten ist schwer und oft missbraucht derjenige, auf den man wartet, die Lage. Warten macht den Wartenden nervös und schwach. So auch mit dem möglichen Krieg in der Ukraine, aber warten tun nicht nur Ukrainer, sondern die ganze Welt, wir darunter. Auch in Estland fühlt man die Spannung. Wir alle wissen, dass so wie Russland in Richtung Ukraine unberechenbar ist, kann es auch uns gegenüber unberechenbar sein. Und dann überlegt man, wenn das Schlimmste auch in Estland passiert, können wir uns auf die anderen verlassen? Öffnet sich der Regenschirm der Nato wirklich, oder bleibt es bei schönen Worten?“
Moralische Dimension nicht vergessen
Es geht hier nicht nur um Interessen, betont Satori:
„Demokratie, Menschenrechte und Souveränität sind nicht nur Worte - es sind universelle Werte. Sie 'eigene Interessen' zu nennen, ist unmoralisch. Obwohl die Ukraine noch weit davon entfernt ist, eine vollwertige Demokratie zu haben, ist ihr Kurs klar, und die Ukraine zahlt dafür einen viel höheren Preis als andere osteuropäische Länder für ihre Freiheit zahlen mussten. ... Die Ukrainer ihrem Schicksal zu überlassen und Russlands Forderungen nachzukommen, würde bedeuten, nicht nur einen Nagel in den Sarg unserer Werte zu schlagen, sondern Russland auch einen Mechanismus zu geben, mit dem es seine künftigen geopolitischen Interessen untermauern kann.“
Neutralitätsidee ist ein Witz
In der Ukraine weiß man, was von Moskaus Angeboten zu halten ist, erinnert die Kronen Zeitung:
„Wenn der Kreml die Öffentlichkeit im Westen für dumm verkaufen will, bringt er ... ein Abkommen über eine ukrainische Neutralität ins Spiel. Mit der Neutralität haben die Ukrainer allerdings die allerschlechtesten Erfahrungen gemacht: 2014 war die Ukraine neutral, als Russland die Krim und die Ostukraine gekapert hat. ... Was die Ukraine will? Sie will keine Neutralität verordnet bekommen, sondern sie will zur Nato. Dieses - theoretische Versprechen - hat die Nato bisher nicht erfüllt ..., denn die Nato nimmt nur Mitglieder, wenn sie keine Grenzprobleme haben. Für diese Probleme der Ukraine sorgt wer? Richtig! Putin.“
Jetzt geht es wirklich um die Freiheit
Der Herausgeber von Eesti Ekspress, Hans H. Luik, fordert gemeinsame Proteste der Osteuropäer gegen Russland:
„Strompreise sind hart, ja. Corona ist übel, aber geht hoffentlich vorbei. Lasst uns doch als Erstes einen richtigen Freiheitsmarsch machen, liebe 'Nationalkonservative', liebe Homos und Lesben, Esten und Russen, freies Volk! ... Neben den Protesten vor der russischen Botschaft sollten die Völker Osteuropas eine gemeinsame Methode erfinden, um ihren Freiheitswillen zu bekunden. Wie lange spricht Russland mit Großmächten über unsere Köpfe hinweg? Eine Aktion auf der Straße oder online brauchen wir. Über Parlamente oder direkt. Den Willen der Nachbarvölker, den Putin in seinem Ultimatum nicht erwähnt, müsste man stolz ausdrücken.“
Richtungslosigkeit der EU unwürdig
Es gibt eigentlich keine europäische Position zur Ukraine-Krise, und wenn doch, ist sie ein Ableger der US-amerikanischen, kritisiert Club Z:
„Es gibt eine deutsche und eine französische Position. Über die Positionen der anderen 25 Mitgliedstaaten brauchen wir gar nicht zu sprechen. Selbst wenn sie zur Sprache kämen, wären sie bloß heiße Luft. ... Die EU, die demografisch und wirtschaftlich größer ist als die USA und im Vergleich zu der Russland ein Wirtschaftszwerg ist, ist nicht Herr ihres eigenen Schicksals. Fragen unserer Sicherheit werden zwischen Washington und Moskau gelöst. Das kann nicht so bleiben, wenn Europa wirklich den Ehrgeiz hat, ein Global Player zu sein.“
Der Judoka taktiert Westen aus dem Gleichgewicht
Ria Nowosti meint, Putins Taktik erkannt zu haben:
„Es ist sein geliebtes Judo: Putin hat beschlossen, gegen den Westen dessen eigene Waffen einzusetzen und die Energie und Macht der Atlantiker gegen sie selbst zu richten. Der Westen hat sich den 'furchtbaren Diktator und Aggressor Putin' ausgedacht - und der reale Putin spielt nun damit. ... Er braucht Zwietracht im Westen und das, was schon von den Atlantikern zu hören war: Wegen der Ukraine werden wir nicht gegen Russland kämpfen. ... Das war zwar auch so klar, aber es musste öffentlich fixiert werden. Dies ist eine wichtige Linie, von der wir unsere Strategie zur Zurückerlangung der Ukraine fortführen: auf friedlichem Weg, aber auch unter Ausnutzung aller westlichen Mythen und Ängste.“
Krieg riskant, Frieden auch
Der Preis eines wirklichen Krieges wäre für Russland sehr hoch, glaubt Milliyet:
„Die russische Wirtschaft könnte von verheerenden und beispiellos harten Sanktionen getroffen werden. Die russische Nation würde sich noch mehr von der Welt isolieren. Im Falle einer Invasion der Ukraine würde die russische Armee schwere Verluste erleiden. Die Nord Stream 2-Gasleitung bis nach Deutschland würde nicht in Betrieb genommen, wodurch Russland enorme Einnahmeverluste erleiden würde. Persönliche Sanktionen könnten bis zum Vermögen russischer Größen inklusive Putin reichen. ... Andererseits - ist es zum jetzigen Zeitpunkt für ihn sinnvoll, seine Truppen abzuziehen und eine diplomatische Niederlage zu akzeptieren, ohne irgendetwas gewonnen zu haben?“
Ausgedehnte Ouvertüre
Konkrete Anzeichen für einen Krieg gibt es bisher kaum, analysiert Independent Türkçe:
„Kriege brechen nicht plötzlich aus. ... Zuerst entsteht diplomatische Spannung oder man lässt sie entstehen, und dann verhärtet sich die diplomatische Sprache allmählich. ... Was die Bevölkerung betrifft, sind Schlangen vor Märkten oder vor Fahrkartenschaltern an Flughäfen zu beobachten. Zu einer Zeit, in der wirklich ein Krieg ausbricht, werden zuerst diejenigen in den höchsten Positionen und ihre Kapitalverwalter benachrichtigt. ... So kann sich eine plötzliche Kapitalflucht aus dem Land zeigen. ... Doch bevor all dieses Geld die Ukraine nicht verlassen hat, können wir sagen, dass kein Krieg beginnen wird. ... Kurz gesagt, es gibt eine Menge Drohgebärden, aber noch immer keinen Ringkampf.“