Wer prägt die russischen Anti-Kriegs-Proteste?
Russische Bürger protestieren auf unterschiedliche Weise gegen den Krieg: Sie riskieren Gewalt bei verbotenen Straßenprotesten, sie unterschreiben Petitionen, Kulturschaffende boykottieren ihren staatlichen Arbeitgeber. Die Mehrheit der Bevölkerung unterstützt jedoch weiter den Regierungskurs. Kommentatoren diskutieren die Rolle der unterschiedlichen Akteure und Erfolgsaussichten der verschiedenen Protestformen.
Eine bedeutende Minderheit
Tygodnik Powszechny rät, die Protestbewegung nicht zu unterschätzen:
„Im Moment kann Putin noch ruhig schlafen. Wie das staatliche Meinungsforschungsinstitut WZIOM berichtet, unterstützen 68 Prozent der Befragten den Präsidenten mit 'eher ja'. Diejenigen, die ihn nicht unterstützen, schreiben Petitionen, Briefe und Friedensaufrufe. Es handelt sich hauptsächlich um die Intelligenz - Architekten, Schriftsteller, Bühnenkünstler, Wissenschaftler und so weiter. Sie sind sicherlich in der Minderheit. Aber was für eine bedeutende Minderheit.“
Ein Wandel kommt erst nach Krieg und Krise
Expresso glaubt nicht, dass die Anti-Kriegs-Demos in Russland für eine Wende des Kreml-Kurses sorgen können:
„Trotz Demonstrationen in Dutzenden von Städten und einer von einer Million Russen unterzeichneten Anti-Kriegs-Petition sind es die tapferen 'üblichen Verdächtigen'. Das Bild der Verhaftung von Jelena Osipowa, einer Überlebenden der Belagerung Leningrads, ist bewegend wegen ihres Mutes. ... Aber Jelena ist eine langjährige Aktivistin. ... Es gibt immer noch keine Volksbewegung gegen den Krieg … Erst ein langer, blutiger und zerstörerischer Krieg sowie eine tiefe Wirtschaftskrise, verursacht durch den Fall des Rubels, können die Dinge ändern.“
Die entscheidende Rolle der Soldatenmütter
Derzeit gelingt es der russischen Regierung noch das Kriegsnarrativ zu prägen. Das könnte sich jedoch ändern, kommentiert France Inter:
„Die russische Bevölkerung bekommt heute nur eine einzige Erzählung zu hören. Eine Erzählung über die ‚Entnazifizierung‘ der Ukraine, die Bedrohung durch die NATO, die ‚Unrechtmäßigkeit‘ der Kyjiwer Regierung. Das ‚chinesische Modell‘ zeigt, dass es möglich ist, Informationen zu blockieren. Aber das wird schwieriger werden, wenn die Informationen über die wahre Zahl der Toten dieses Krieges in die Familien dringen. Die Komitees der Soldatenmütter Russlands, die in den Kriegen in Afghanistan und Tschetschenien eine große Rolle gespielt haben, sind bereits dabei, zurückzukehren.“
Kulturstreik ist kontraproduktiv
Nowaja Gaseta appelliert an Mitarbeiter staatlicher Kulturinstitutionen, die erwägen, aus Protest zu kündigen:
„Man darf nicht zulassen, dass aus uns Feinde gemacht werden. Das ist, was manche sehr wollen, dass wir als Antwort Zähne zeigen und schmollen. ... Dämpfen wir unseren Stolz. ... Der Schmerz ist verständlich, in dem sich ein großer europäischer Regisseur, Autor mehrerer in Moskau laufender Stücke, an seine russischen Kollegen gewandt und zum Streik aufgerufen hat. Er meint es ehrlich, aber er irrt. Eine Schließung von Theatern und Museen wird nur ein Geschenk sein an diejenigen, die er so abstrafen möchte. ... Lasst uns bewahren, was man bewahren kann. Die Zeiten haben sich geändert, aber das heißt nicht, dass es für immer ist. Sie ändern sich wieder.“
Krieg gegen demokratisches Aufbegehren
Putin kämpft auch gegen sein eigenes Volk, interpretiert das Onlineportal Satori:
„Wenn Putin sich einbildet, dass diese 'eine Nation' (Russen und die Ukrainer) existiert, dann befindet sich Russland durch den Einmarsch in die Ukraine im Krieg mit sich selbst. Vielleicht lässt sich in diesem Umstand eine Erklärung für sein Handeln finden. Er wappnet sich gegen die Bemühungen der Ukraine, eine Demokratie aufzubauen, die an Rechtsstaatlichkeit und faire Politik glaubt. Denn das entzündet auch den Funken der Demokratie in seinem eigenen Land. Den alten Despoten kann nur sein eigenes Volk stürzen. Und dem Volk will er die Möglichkeit nehmen, sich von den gefährlichen Ideen seiner Nachbarn faszinieren zu lassen.“
Der Präsident braucht diese Flucht nach vorne
Putins Handeln folgt weder einem rationalen Kalkül, noch lässt es sich aus einer individuellen Pathologie erklären, diagnostiziert Woxx:
„[S]ondern aus der Spezifik des von ihm geschaffenen politischen Systems. ... Putin [bedarf] einer permanenten Eskalation nach innen wie nach außen, um seine Machtposition aufrechtzuerhalten. Schon im Jahr 2011 beurteilte der Politikwissenschaftler Robert Horvath die russische Außenpolitik als zentral innenpolitisch motivierte 'präventive Konterrevolution'. Mit ihr soll die Opposition kaltgestellt, die verschiedenen Machtfraktionen auf Linie gebracht und öffentliche Zustimmung organisiert werden. Ein Kalkül, das, wie jetzt erneut zu beobachten ist, einer irrationalen und letztlich selbstzerstörerischen Dynamik folgt.“
Die russische Elite muss jetzt handeln
Dass es in Russland einflussreiche Personen gibt, die an ihre Kinder und Kindeskinder denken, hofft Bildungsexperte Stefan Vlaston bei Adevărul:
„Vermutlich gibt es in diesen Tagen geheime Gespräche mit den Geheimdienststrukturen der Nato über eine Beruhigung der Lage in einer Post-Putin-Ära. ... Auch die Menschen in der russischen Politik- und Militärelite haben Kinder und Enkel. Sie wollen nicht, dass diese in einem Atomkrieg untergehen. Sie wollen keinen kollektiven Selbstmord. Es ist nur eine Frage von Tagen, bis diese Elite Putin absetzen wird, friedlich oder gewalttätig. Andernfalls wird die russische Bevölkerung weiter enorm leiden, ihre Toten beklagen und diejenigen verfluchen, die diesen Wahnsinn aufhalten könnten, es aber nicht tun.“
Das Volk hat diese Entscheidung nicht getroffen
Ilta-Sanomat warnt davor, die russischen Bürger kollektiv für den Einmarsch verantwortlich zu machen:
„In dieser aufgewühlten Zeit ist es äußerst wichtig, sich daran zu erinnern, dass der irrsinnige Angriff der russischen Herrschenden auf die Ukraine nicht die Schuld der einfachen Russen ist. Natürlich hat Putin seine Anhänger, die von der Wiederherstellung des Großmachtstatus träumen. Doch im russischen politischen System hat der Normalbürger kaum eine Chance, die Handlungen der Machthaber zu beeinflussen, geschweige denn, sich ihnen zu widersetzen. … Wie schlimm die Handlungen des russischen Staates auch sein mögen, die einfachen Russen dürfen nicht kollektiv für den Angriff verantwortlich gemacht werden. Sie haben die Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, nicht getroffen.“