Ukraine: Mit direkten Verhandlungen zum Frieden?
Die Verhandlungen zwischen Vertretern der Ukraine und Russlands zum Ukraine-Krieg sind bisher ohne Ergebnis geblieben. Der ukrainische Präsident Selenskyj hat daher am Montag bekräftigt, dass direkte Gespräche zwischen ihm und Putin nötig seien. Die Ukraine sei bereit, auf eine Nato-Mitgliedschaft zu verzichten, wenn sie gleichwertige Sicherheitsgarantien bekomme. Europas Presse sieht viele Hindernisse.
Noch dominieren die militärischen Szenarien
Radio Kommersant FM sieht noch keine Perspektive für direkte Verhandlungen der Präsidenten Putin und Selenskyj:
„Selenskyj ist noch immer bereit, sich mit seinem russischen Kollegen zu treffen - sollte das nicht klappen, würde sich die Lage sehr zum Schlechten wenden, sagt er. Der Kreml sagt: Nein, die dafür notwendigen Vorbereitungen sind noch nicht getroffen. ... Die Lage muss neu durchdacht werden. Alles, was jetzt geschieht, ist eine Neuaufstellung der militärischen wie politischen Kräfte. ... Ein ideales Dokument zu formulieren, das allen recht ist, ist unmöglich. Wohl deshalb ist der Zeitpunkt für einen Kompromiss noch nicht gekommen - vorrangig, weil sich das militärische Szenario noch nicht erschöpft hat. “
Einfach mal die Klappe halten und helfen
Gazeta Wyborcza fordert bedingungslose Solidarität mit der Ukraine:
„Es ist nicht die Aufgabe Polens oder Europas, den Ukrainern Ratschläge zu erteilen, welche Entscheidungen sie treffen oder welche Kompromisse sie eingehen sollten. Wir müssen sie einfach so gut wie möglich unterstützen, ob sie nun kämpfen wollen oder nicht. Ihnen militärische und humanitäre Hilfe bieten. Wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland verhängen. Flüchtlinge aufnehmen. Und nicht schon davon ausgehen, dass der Osten der Ukraine pro-russisch und nicht mehr zu retten ist, denn genau das suggeriert der Desinformations-Subtext des Kremls. Der Donbass ist ukrainisch.“
Folgenschwere Entscheidungen
Selenskyjs Dilemma betrifft Europa als Ganzes, gibt Corriere del Ticino zu bedenken:
„Bisher zeigt sich Selenskyj unnachgiebig. Eine Haltung, die auch von der Hoffnung herrührt, die sich andeutenden Probleme der russischen Armee in den Außenbezirken von Kyjiw zu seinem Vorteil zu nutzen. Die steigende Zahl der Opfer in der Ukraine zwingt ihn jedoch gleichzeitig dazu, Zugeständnisse an Russland in Betracht zu ziehen, um den verheerenden Konflikt zu beenden. Angesichts der widersprüchlichen Signale fragt sich der Westen, welche Absichten Kyjiw nun wirklich verfolgt. Zumal ein Abkommen Auswirkungen auf die europäische Sicherheit haben wird und einige Länder an der Ostflanke der Nato befürchten, dass dem russischen Staatschef Wladimir Putin zu viele Zugeständnisse eingeräumt werden könnten.“
Zum Kompromiss gezwungen
Die Salzburger Nachrichten sehen Putins Strategie unter den Trümmern des Kriegs begraben:
„[W]as wäre noch als 'Sieg' für Putin zu werten? Eine Besetzung der Ukraine hat der russische Präsident ausgeschlossen. Auch die Entwicklung in der Ukraine spricht klar dagegen. Denn was Moskaus Statthaltern bevorstehen würde, zeigt sich in Cherson - der einzigen größeren Stadt des Landes, die russische Truppen unter Kontrolle bringen konnten. Von Beginn der Besatzung an protestieren fast täglich Tausende gegen die fremden Soldaten. Nimmt man all das zusammen und fügt die Wirkungen der westlichen Sanktionen auf die russische Wirtschaft hinzu, spricht derzeit viel für eine Verhandlungslösung.“
Gefährliche Spirale
Putin wird nicht mit leeren Händen einen Rückzieher machen, fürchtet Irish Independent:
„Die Enthüllung der militärischen Unfähigkeit Russlands und das völlige Verfehlen seiner Ziele macht es für Putin schwer, über ein Ende der Kampfhandlungen zu verhandeln. Aber je furchtbarer er sich verhält, desto schwieriger wird es, ihm etwas zu geben, damit ein Friedensabkommen zustande kommen kann. Nach wochenlangen Angriffen auf Zivilisten ist es unvorstellbar, dass er der Verantwortung für Kriegsverbrechen entkommen könnte, deren Zeuge die ganze Welt wurde. Auch wäre es ein schrecklicher Verrat an den heldenhaften Anstrengungen der Ukrainer, seine Forderung zu erfüllen, dass die Ukraine auf eine Verbündung mit dem Westen verzichten müsse.“
Die ‘Nahostisierung‘ der Ukraine
Niemand hat momentan Interesse daran, Frieden zu schaffen, schreibt das Webportal News247:
„Russland tut im Grunde nur so, als ob es am Verhandlungstisch sitzt, da es gleichzeitig seine Militäroperationen fortsetzt. ... Auch der Westen scheint die Einstellung der Kriegshandlungen nicht als Hauptziel zu verfolgen. Er zieht es vor, Russland zu zermürben (wirtschaftlich, politisch und militärisch), indem es die sich wehrenden Ukrainer stärkt. ... Die 'Nahostisierung' der Ukraine scheint - leider - eine Entwicklung zu sein, die den Bestrebungen der wichtigsten Pole entspricht. ... In erster Linie Moskau, das einen Schwebezustand aufrechthält und so seine eigenen Ziele je nach den Umständen fördern kann. Das Gleiche gilt für Washington, das den Plan der Nato-Osterweiterung aufrechthält und gleichzeitig Europa mit der 'Angst vor Russland' an sich binden will.“
Nato muss Putins Fehdehandschuh aufnehmen
Gazeta Wyborcza warnt vor einem faulen Kompromiss:
„Am Tag nach der Unterzeichnung des Münchner Abkommens gab Hitler Chamberlain eine schriftliche Erklärung, dass beide nach der Annexion des Sudetenlandes gemeinsam den Frieden in Europa garantieren würden. Chamberlain hatte das Recht, sich etwas vorzumachen, da dies eine Premiere war. Wir haben kein Recht mehr auf solche Illusionen, denn es gibt zu viele historische Parallelen. Nein: Es droht uns kein Krieg der Nato mit Russland. Putin hat ihn längst begonnen. In hybrider Form führt er ihn schon seit langem, militärisch seit dem 24. Februar. ... Es gilt, den Fehdehandschuh schnell und mit allen Mitteln aufzunehmen. Denn von selbst wird er nicht verschwinden. Und später wird es nur noch schwieriger werden.“
Sicherheitsgarantien bleiben ungeklärt
Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung bleiben viele Fragen offen:
„Wäre Moskau wirklich bereit, die Ukraine nach Europa ziehen zu lassen? Putins Streben nach einer Einflusssphäre vor seinen Grenzen würde das zuwiderlaufen. Noch schwieriger: Woher sollen die Sicherheitsgarantien kommen, welche die Ukraine aus gutem Grund verlangt? Die Idee, die USA, Großbritannien und die Türkei zu Garantiemächten zu machen, nimmt zwar Deutschland und Frankreich aus dem Spiel, die immer gegen den Nato-Beitritt der Ukraine waren. Aber auch in Washington war zuletzt kein Wille zu erkennen, das Land zu verteidigen. Das ist auch weiterhin die Mehrheitsmeinung in der Nato ... .“
Es geht um mehr als Neutralität
La Vanguardia glaubt, dass Frieden nur mit großen Zugeständnissen beiderseits möglich ist:
„Ein hypothetischer Pakt über die Neutralität der Ukraine würde nicht ausreichen, um den Krieg zu beenden. Es gibt andere wichtige bilaterale Fragen, die zuerst geklärt werden sollten. ... Für die Ukraine könnte es heißen, dass sie einige der Gebiete abgibt, die bei der Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991 Teil des Landes waren. Für Russland könnten sie darin bestehen, seinen Landsleuten einzugestehen, dass es nicht in der Lage ist, die Ukraine militärisch zu beherrschen. In beiden Fällen handelt es sich um schwer verdauliche Kränkungen des eigenen Stolzes.“
Nichts kann das Geschehene rückgängig machen
Der Frieden wird teuer, meint auch De Morgen:
„Russlands Wirtschaft wird in die Knie gezwungen durch westliche Sanktionen. Eroberte Gebiete werden wirtschaftlich wenig wert sein. ... Es sei denn, sie werden an die Ukraine zurückgegeben und dann mit westlicher Hilfe wieder aufgebaut. Doch inwieweit lässt sich die heutige russische Führung von solchen rationalen Erwägungen leiten? ... Auch westliche Länder werden sich über ihre Haltung beraten müssen - in Bezug auf die Beendigung des Konflikts und gegenüber Russland. Es wurden rote Linien überschritten, die es fast unmöglich machen für den Westen, später das Glas zu heben auf ein gutes Ende mit demselben Putin, der jetzt Wohnviertel bombardieren lässt.“
Ein müder und unentschlossener Vermittler
Corriere del Ticino sieht die Gefahr einer Gewöhnung an den Krieg:
„Diejenigen, die traditionell die Rolle des Vermittlers übernehmen könnten, wie die Uno oder die Schweiz, scheinen nicht in der Lage dazu oder kommen nicht in die Gänge... Die Gefahr, dass der Konflikt endemisch wird, wie es im Donbass nach dem Beginn der Feindseligkeiten im Jahr 2014 der Fall war, ist nicht auszuschließen, aber dieses Mal muss alles getan werden, um sie abzuwenden. Wenn der Krieg fortgesetzt würde, würde er von den Titelseiten der Zeitungen verschwinden, und wie bei anderen weit entfernten Kriegen würden sich die Menschen schließlich daran gewöhnen und ihn sogar vergessen. ... Der Westen, ein müder und unentschlossener Vermittler, sollte zumindest versprechen, dass dies nicht geschehen wird.“
Schlimmer als im Kalten Krieg
Falls die Verhandlungen scheitern, droht Europa eine lange Zeit sicherheitspolitischer Instabilität, schreibt der Anwalt und Analyst José Miguel Júdice in Expresso:
„Ohne ein Friedensabkommen sehe ich keine Möglichkeit, die Beziehungen zwischen Russland und den Ländern der liberalen Demokratie sowie den Nato-Mitgliedstaaten kurz- bis mittelfristig zu normalisieren. Die Lage könnte also ernster sein als während des Kalten Krieges und noch lange so bleiben, bis es in Russland zu einem Regimewechsel kommt. ... Ich denke also, dass wir in den nächsten Jahren in Europa bestenfalls auf Messers Schneide leben werden. Dies wird natürlich am stärksten in den östlichen, baltischen und nordischen Ländern zu spüren sein, die wissen, dass sie jeden Moment zum Schlachtfeld werden können.“