Ungarn und EU auf Konfrontationskurs
Budapest will eine von der EU-Kommission geplante Verschärfung der Sanktionen gegen Russland nicht mittragen. Der frisch wiedergewählte Premier Viktor Orbán erklärte am Mittwoch, Einfuhrbeschränkungen auf russisches Öl oder Gas seien für ihn eine rote Linie. Kurz zuvor hatte Kommissionspräsidentin von der Leyen ein Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn angekündigt. Wohin führt dieser Konflikt?
Demokratien vor solchem Patriotismus schützen
Als überfälligen Schritt begrüßt NRC Handelsblad, dass der Rechtsstaatsmechanismus nun angewendet wird:
„Das ist ein kluger, aber doch später Zug, nachdem Orbán gerade für vier Jahre wiedergewählt wurde. ... Orbán zufolge hat der 'Patriotismus' gewonnen. 'Das ist unsere Botschaft an Europa: Wir sind nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft.' Es ist nun die Aufgabe der Kommission und aller Mitgliedsstaaten, dafür zu sorgen, dass diese Zukunft den europäischen Werten und den liberalen demokratischen Prinzipien nicht länger im Weg steht.“
Zoff mit Brüssel hat Orbán bislang gestärkt
Als langwieriges Verfahren mit ungewissen Erfolgsaussichten empfindet Efimerida ton Syntakton den Rechtsstaatsmechanismus:
„Sobald die Kommission das Verfahren formell einleitet, wird eine lange Auseinandersetzung mit Budapest kommen. Dann wird der EU-Rat, also die Mitgliedsstaaten, angerufen, um zu entscheiden, und der Vorschlag der Kommission braucht eine 'qualifizierte Mehrheit', das heißt mindestens 55 Prozent der EU-Länder, die 65 Prozent der europäischen Bevölkerung repräsentieren, um angenommen zu werden. Wir werden sehen, was passiert. Eine - fast existenzielle - Frage ist jedoch, ob die EU auf diese Weise Rechtspopulisten wie Orbán letztlich besiegen kann. Denn bisher hat ihn die Konfrontation stärker gemacht.“
Bürger würden Huxit nicht mitmachen
Sobald ein Austritt Ungarns aus der EU droht, kann sich Orbán nicht mehr auf die Unterstützung der Bevölkerung verlassen, glaubt Spotmedia:
„Orbán wird die Entscheidung der EU mit Sicherheit zu einem Narrativ machen, dass man damit Ungarn bestrafe, weil es anders gewählt habe, als es die EU-Anführer wollten. Doch wird es nicht so einfach sein, hier alles auf eine Karte zu setzen und womöglich einen Austritt aus der Union zu provozieren, den die Ungarn nicht unterstützen würden. Orbán weiß, dass die Ungarn zwar billiges Gas begrüßen, selbst wenn es russisches ist, doch sie sich im Falle eines Huxits, der keineswegs von wirtschaftlichem Vorteil wäre, nicht ebenso zustimmend verhalten.“
Europa muss die Lage akzeptieren
Europa bleibt keine andere Wahl, als Orbán zu akzeptieren, meint der Ökonom Károly Lóránt in der regierungsnahen Magyar Hírlap:
„Sogar die westliche Presse gibt zu, dass der Zweidrittelmehrheit-Sieg eine starke Ermächtigung ist. In einem in der Financial Times veröffentlichten Text klingt das so: 'Dieser erdrutschartige Sieg wird die EU dazu bewegen, dass sie diesen neuen Status quo akzeptiert: Ja, die EU hat autoritäre Mitgliedstaaten.' Wir würden diese Formulierung so ändern, dass Brüssel akzeptieren soll, dass die EU auch solche Mitgliedstaaten hat, die kulturelle Wurzeln sowie die kulturelle und nationale Vielfalt Europas schützen.“
Gefährliche Populismuswelle
Phileleftheros sieht im ungarischen Wahlausgang eine bedrohliche internationale Tendenz:
„Die Wähler, zumindest diejenigen, die sich noch an den Wahlen beteiligen, werden von Ideologien wie die von Orbán, Trump oder Bolsonaro angezogen. Und je schwieriger die Lebensbedingungen für die Menschen werden, desto mehr verstärken sie Tendenzen und Überzeugungen wie die, die der ungarische Führer gegen Homosexuelle, gegen Einwanderer oder gegen die Pressefreiheit predigt. Daher sein komfortabler Sieg. ... Die Europäer blicken in diesen Tagen auf die Wahlen in Frankreich, um zu sehen, ob es noch einen Widerstand gegen den Populismus gibt.“
Orbán könnte mit Huxit drohen
Hospodářské noviny sieht Ungarns Regierungschef zunehmend isoliert:
„Orbáns überwältigender Wahlsieg hat das Bewusstsein dafür geschärft, dass die EU-Mitglieder zumindest für einige Zeit ein Land in ihren Reihen haben werden, das der Autokratie näher ist als der Demokratie. Den Wählern in den reicheren Teilen der EU kann man nur schwer erklären, weshalb wir einem solchen Führer Geld schicken, wenn er gemeinsame Regeln und Werte nicht respektiert. ... Die Frage wird sein, wie sich Orbán verhalten wird. Eine Möglichkeit ist, dass er damit beginnt, sein Land zumindest rhetorisch auf den Austritt aus der EU vorzubereiten. Er wird Brüssel einfach mit dem Huxit drohen. Das Problem ist jedoch, dass ihm seine östlichen Verbündeten Russland und China außer billigem Treibstoff wenig zu bieten haben.“
Jetzt wirklich den Geldhahn zudrehen
Brüssel muss im Umgang mit Budapest Härte zeigen, fordert Historiker Timothy Garton Ash in Irish Examiner:
„Wenn die EU nicht akzeptieren will, dass sie einen autoritären Mitgliedsstaat hat, sollte sie die europäischen Geldströme, die seit langem eine der Hauptquellen von Orbáns Macht sind, endlich an strenge Bedingungen knüpfen. Dies bedeutet, dass Zuschüsse und Kredite zur Krisenbewältigung nach der Pandemie weiterhin zurückgehalten werden sollten. Denn ein Regime, das auf der korrupten Zweckentfremdung von EU-Geldern aufbaut, kann keine Transparenz garantieren. Es bedeutet zudem, endlich den EU-Rechtsstaatsmechanismus zu aktivieren, der erhebliche Teile der Finanzierung aus dem ordentlichen Haushalt der EU zurückhalten könnte.“