Misstrauensvotum: Wie angeschlagen ist Johnson?
Boris Johnson hat ein Misstrauensvotum in seiner Partei infolge des Partygate-Skandals überstanden. Doch in diesem Wahlgang haben sich rund 40 Prozent der Tory-Abgeordneten gegen ihren Premier ausgesprochen. Kommentatoren sind sich uneinig, was das für Johnsons Zukunft und die britische Politik bedeutet.
Gefährliche alte Masche
Um von seinen innenpolitischen Problemen abzulenken, könnte Johnson erneut die EU zum Sündenbock machen, befürchtet Der Tagesspiegel:
„Das Ressentiment gegen die EU ist genau jener Stoff, der Johnson politisch groß gemacht hat. Seine Pro-Brexit-Kampagne im Jahr 2016 ebnete ihm seinerzeit den Weg ins britische Kabinett. ... Dass die Briten nach dem Brexit wieder zur Tagesordnung übergegangen sind und mit der EU nicht mehr groß behelligt werden wollen, scheint ihn dabei nicht zu stören. Demnächst könnte er ein Gesetz vorlegen, das Teile des Nordirland-Protokolls außer Kraft setzen würde. ... Eine Aufkündigung des Protokolls würde einen Handelskrieg zwischen Großbritannien und der EU heraufbeschwören. Johnson sollte sich gut überlegen, ob er dies den Briten wirklich zumuten will.“
Westminster braucht realistischen Blick
Das knappe Ergebnis des Votums belegt die politische Instabilität, warnt NRC Handelsblad:
„Die britische Politik wird erst dann wirklich den Kurs wechseln, wenn der Tory-Führer erkennt, dass die Brexit-Strategie, die im Interesse des Landes liegt, Schadensbegrenzung sein muss. Mit einem realistischen Blick auf Nordirland und die britisch-europäischen Wirtschaftsbeziehungen. Erst dann kann das gesamte britische politische Spektrum nach sechs Jahren Turbulenzen mit der Stabilisierung anfangen. ... Es ist ermutigend, dass die Tories in der Lage sind, im großen Stil interne Kritik zu organisieren. Jetzt muss man diese Kritik noch ausweiten, von den Partys zu der künftigen Beziehung zur Europäischen Union. “
Der Lack ist ab
Das Ergebnis des Misstrauensvotums kann wahrlich nicht als Sieg für Johnson durchgehen, heißt es bei Echo24:
„Vor einigen Jahren wirkte Johnson noch wie eine Hoffnung für die Konservativen dieser Welt. Ein eloquenter Mann, der regelmäßig die Grenzen der Political Correctness überschritt, persönlich ein Liberaler und doch ein Mann, für den Margaret Thatcher einst eine Schwäche gehabt hätte; ein gebildeter Mann mit der Fähigkeit, die Unterschicht anzusprechen. Aber entweder verlor er diese Stärken oder er hatte sie nie. ... Trotzdem hätten konservative Abgeordnete wahrscheinlich nicht versucht, ihren Premier zu entmachten, wenn sie nicht inzwischen die öffentliche Verachtung für Boris gespürt hätten.“
Das böse Ende naht
Johnson ist keinesfalls aus dem Gröbsten raus, erinnert The Times:
„Weitere politische Gefahren stehen vor der Tür. Der nächste Test werden die Nachwahlen im nördlichen Wakefield sein, einem traditionellen Labour-Sitz und im traditionell konservativen Tiverton und Honiton, wo die Tories eine große Mehrheit verteidigen, aber Umfragen darauf hindeuten, dass eine schwere Niederlage bevorsteht. Dann gibt es den Untersuchungsausschuss, ob Johnson das Parlament absichtlich zu den Lockdown-Partys in Downing Street in die Irre geführt hat. Ein Urteil gegen ihn würde sicherlich seinen Rücktritt erfordern. Und selbst wenn Johnson diese Proben übersteht, bleibt die grundlegende Frage, was er zu tun gedenkt, um das Vertrauen der Öffentlichkeit vor der nächsten Wahl zurückzugewinnen.“
Erfolg für den Premier, Niederlage für das Land
Polityka betrachtet Johnson als Belastung für Großbritannien:
„Im Vereinigten Königreich wächst die Unzufriedenheit mit Westminster, das Vertrauen in die öffentlichen Organe sinkt, welches für die britische Politik und die Beziehungen zwischen Staat und Bürgern von grundlegender Bedeutung ist. Theoretisch hat der Premier bis zum Ende des Jahres Ruhe, denn die Regeln sehen nur ein Misstrauensvotum alle 12 Monate vor. ... Doch ein zweites politisches Attentat auf den Regierungschef in nächster Zukunft ist nicht auszuschließen. Boris Johnson hat sich dieses Mal behauptet. Er hat gewonnen, zumindest er selbst. Verloren hat dafür ganz Großbritannien.“
Auch Drahtseilkünstler fallen früher oder später
Das Glück wird Johnson nicht ewig treu bleiben, prophezeit La Repubblica:
„Seine unbestrittene Fähigkeit war es bisher, jede Kontroverse zu überstehen. Aber selbst die größten Drahtseilkünstler fallen früher oder später kraft der Risiken, die sie eingehen. Schon im Jahr 1988, als er noch ein Anfänger im Journalismus war, wurde er von The Times gefeuert, weil herauskam, dass er einen Artikel erfunden hatte. Jahre später, als Brüssel-Korrespondent des Daily Telegraph, wurde er beschuldigt, eine Nachricht nach der anderen zu verdrehen. … Später, als Kolumnist derselben Zeitung, wurde er der Homophobie, des Rassismus und der Islamophobie beschuldigt.“
Das größte Problem ist sein Charakter
Der britische Premier hat in seiner Amtszeit mehrmals gezeigt, dass er für das Amt ungeeignet ist, meint die Wiener Zeitung:
„Johnson hat kräftig dazu beigetragen, mit dreisten Lügen und absurden Versprechungen eine Mehrheit für das Pro-Brexit-Lager zu sichern. … Das größte Problem Johnsons war immer sein Charakterfehler: Am Elite-Internat Eton College und der ehrwürdigen Oxford Universität hat man ihm offenbar weder ein Gefühl für Schicklichkeit noch Aufrichtigkeit und Seriosität beigebracht. Als Premierminister schickte er die Briten in den harten Lockdown, während er selbst mit Kolleginnen und Kollegen seines innersten Kreises Partys feierte.“