Russland: Wendet sich die Stimmung gegen Putin?
Der Angriffskrieg auf die Ukraine hat Russlands Bevölkerung eingeholt: Die Behörden zeigen sich bei der Mobilmachung nicht wählerisch und rekrutieren vielerorts massenhaft Männer ohne Rücksicht auf Alter, Gesundheit und militärische Vorkenntnisse. Weil Russland militärisch stark in die Defensive geraten ist, gärt das Unbehagen umso mehr. Kommentatoren diskutieren, ob das für Putin gefährlich werden kann.
Im Machtapparat wächst der Frust
Unzufriedene Funktionäre sind eine Gefahr für Putin, glaubt Gazeta Wyborcza:
„Putin hat fast ein Vierteljahrhundert lang alles getan, um sicherzustellen, dass es im Land niemanden gibt, unter dem sich der Staatsapparat, der die Grundlage jeder Kreml-Macht war und ist, 'einrichten' könnte, wie man in Russland sagt. ... Andererseits schrumpft dessen 'Nahrungsgrundlage'. Die Unternehmen werden ärmer und können weniger Bestechungsgelder zahlen. ... Der Kremlherrscher selbst hat bereits auf die Frustration der Staatsfunktionäre hingewiesen. Er beklagt, dass sie viel mehr trinken und ihre Disziplin nachlässt. Und in dieser Situation könnten sie sich nach jemand anderem umsehen, unter dem sie sich 'einrichten' können.“
Niemand will seinen Job
Investmentbanker Andrej Mowtschan sieht auf Facebook die vom Kremlchef angerichtete Katastrophe zugleich als dessen Machtgarantie:
„Wer von klarem Verstand würde heute Position Eins in Russland übernehmen wollen, um sich mit dem Kollaps der Armee, der Wirtschaftskrise und konkurrierenden bewaffneten Formationen im Land auseinanderzusetzen? Und um noch dazu einen unausweichlichen Gebietsverlust eingestehen zu müssen? Mir scheint, in einer solchen Situation dürfte jeder Anwärter abwarten, bis der amtierende Kaiser die heftigsten Probleme gelöst hat - sonst gehen Schuld und Konsequenzen auf den Nachfolger/Bewerber selbst über. Aber auch der Kaiser wird es nicht eilig haben: in Ermangelung Williger kann er in aller Ruhe weiterregieren. Je schlimmer, desto ruhiger.“
Ungerechtigkeit ist längst Normalzustand
Die Publizistin Esther Mucznik bezweifelt in Público, dass die Teilmobilmachung zu einer Revolte gegen Putin führt:
„Es stimmt, dass es trotz der Repressionen zu Protesten vor allem junger Menschen und zu endlosen Schlangen von Menschen kommt, die vor der Mobilisierung fliehen. Aber ist das genug? Ich persönlich habe die größten Zweifel daran. Und diese Zweifel rühren von der langen Geschichte der absoluten Macht, der Diktatur, der Korruption, der Unterdrückung und der Inhaftierung her. ... Aber vielleicht noch wichtiger ist die Verachtung des menschlichen Lebens und die daraus resultierende Angst, die sich in einer Bevölkerung breitmacht, die sich größtenteils daran gewöhnt hat, mit Grausamkeit, Ungerechtigkeit und Zensur zu leben.“
Putin so angeschlagen wie noch nie
Die Lage ist völlig unvorhersehbar, meint Spotmedia:
„Es wird in den kommenden Tagen interessant sein, die Dynamik der internen Spannungen zu verfolgen. Die Todesangst jener, die gezwungen werden, in den Krieg zu ziehen, hat zu einer extremen Volatilität geführt. Es kann jetzt alles geschehen. Die sozialen Netzwerke sind voller Videoclips, die Konflikte zwischen verzweifelten Eltern und Behörden zeigen, zwischen Rekruten und künftigen Kommandanten sowie zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Es ist verfrüht, um von einem Fall des Regimes zu sprechen, doch Wladimir Putin war noch nie so verwundbar wie jetzt.“
Flucht hilft nur dem Einzelnen
Der Wirtschaftswissenschaftler Maxim Mironow erklärt auf Facebook, dass Ausreise oder sich Verstecken die russische Gesellschaft nicht vor den Folgen der Mobilmachung bewahren wird:
„Leider ist diese Strategie nicht geeignet, die Zahl der Eingezogenen in den ersten Monaten der Mobilisierungskampagne zu verringern. Da die Menge der potenziell Einberufbaren recht groß ist, erlaubt eine Dienstverweigerung den besser informierten und wohlhabenderen jungen Leuten zwar die Einberufung zu umgehen, doch geht dies auf Kosten ihrer weniger gutgestellten Altersgenossen. Deshalb verhindert diese Strategie keine massenhaften sinnlosen Verluste an Menschenleben, wie sie durch die Verschickung von Hundertausenden Verpflichteten in die Ukraine geschehen werden.“
Krieg gegen ethnische Minderheiten
Es sind vor allem Angehörige nichtrussischer Völker, die in den Krieg gegen die Ukraine geschickt werden, heißt es auf Gordonua.com:
„In Burjatien werden ganze Dörfer umzingelt und alle Männer gewaltsam mitgenommen. Auf der annektierten Krim werden krimtatarische Jugendliche massenhaft vorgeladen. Die Ausrottung der Burjaten, wie man vor Ort sagt, ist Teil einer Strategie russischer Clans, die vollständige Kontrolle über den Baikalsee und die umliegenden Gebiete zu erlangen. Der Völkermord an den Krimtataren ist seit langem eine fixe imperiale Idee. ... Selbst wenn es in der Ukraine nichts erreicht, glaubt das imperiale Regime in Moskau also, dass es trotzdem etwas gewinnen wird.“
Grenze des Ertragbaren überschritten
Visão ist von den Protesten in russischen Städten nicht überrascht:
„Mit seiner einschüchternden Rede und dem dahinterstehenden Plan, die ukrainischen Gebiete zu annektieren, sowie der direkten Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen hat Putin die Grenzen der innenpolitischen Akzeptanz überschritten. Wenn die russischen Truppen keine Ausrüstung und keine Reserven haben, dann gilt das Gleiche spiegelbildlich auch für die russische Bevölkerung, die kein normales Leben mehr führen kann ohne Produkte und Waren, und mit Rubeln in der Tasche, die keinen Zweck erfüllen. Die Grenze ist überschritten. Die Geduld geht verloren und Demonstrationen breiten sich aus.“
Machtwechsel im Kreml nicht mehr ausgeschlossen
wPolityce sieht Grund zur Hoffnung auf Veränderung in Russland:
„Das Ausmaß der Proteste gegen die Mobilisierung, die Russland erfasst haben, überrascht. In Kriegszeiten auf die Straße zu gehen und gegen die Zwangseinberufung zu protestieren, beweist Entschlossenheit. ... Es ist schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass Putin einen zweiten großen Fehler begangen hat. Der erste bestand darin, die Ukraine anzugreifen, der zweite darin, die Mobilisierung zu verkünden und den Kurs auf Eskalation zu setzen. Wenn sich der Westen nicht einschüchtern lässt, werden wir - und zwar bald - einen Machtwechsel im Kreml erleben.“
Fest im Sattel
Die Sozialwissenschaftler Andrej Kolesnikow und Denis Wolkow schätzen die Wirkung der aktuellen Ankündigung in Der Standard als gering ein:
„Derweil gibt es wenig Grund zu der Annahme, dass Putins Regime in echter Gefahr ist. Die Russinnen und Russen geben weitgehend den USA, Europa und der Nato die Schuld für ihre gegenwärtigen Probleme - ein Eindruck, der durch die Sanktionen alles andere als ausgeräumt wurde. Darüber hinaus wurden sowohl die politische Opposition als auch die Zivilgesellschaft vernichtet ... Die Frage ist, ob eine weitere Verschlechterung der sozioökonomischen Lage die Russen dazu bringen könnte, sich gegen Putin zu wenden.“
Test für Putin-Treue
Novi list meint:
„Ein erster Wegweiser Richtung wirklicher Lage in Russland wird sich zeigen, wenn tatsächlich die Mobilmachung der 300.000 Reservisten beginnt, von denen Putin gestern sprach. ... Wenn in den nächsten Wochen tatsächlich 300.000 neue russische Soldaten in der Ostukraine ankommen, beziehungsweise die Mobilmachung in großem Masse Erfolg hat, wird klarer sein dass Putin die solide Unterstützung der Bürger Russlands genießt. Wenn im Kriegsgebiet viel weniger Soldaten ankommen als erwartet, dann zeigt dies, dass Putin weit weniger Unterstützung hat, als seine Medien weismachen wollen. “
Rette sich, wer kann
Russische Männer wandern jetzt scharenweise aus, um nicht in den Krieg ziehen zu müssen, beobachtet Milliyet:
„Die vorhersehbaren Reaktionen kamen sofort: Flugtickets nach Istanbul sind ausverkauft. Wer sich retten will, versucht im Ausland unterzukommen, bevor die Entscheidung Gesetz wird. Da es keine Flüge mehr in andere europäische Staaten gibt und Schengen-Visa ihre Gültigkeit verloren haben, sind Istanbul oder andere Flughäfen der Türkei der einzige Fluchtweg für diejenigen, die sich nicht zum Militär verpflichten wollen.“