Ukraine unter Beschuss: Was sind die Konsequenzen?
Seit Montag greift Russland in der Ukraine landesweit Energie-, Militär- und Kommunikationsinfrastruktur an sowie zivile Ziele, darunter die Kyjiwer Innenstadt. Moskau begründete dies mit "Terroranschlägen" gegen russisches Gebiet und machte die Ukraine für die Explosion auf der Krim-Brücke am Samstag verantwortlich. Europas Presse sieht darin eine neue Eskalationsstufe, unter der die Bevölkerung extrem leiden muss.
Bevölkerung steht vor eisigem Winter
El Mundo fordert den Westen auf, den Himmel über der Ukraine abzusichern:
„Wladimir Putin will die ukrainische Zivilbevölkerung ohne Energiequellen dem eisigen Winter überlassen. Diese neue Strategie zielt auch auf die wahllose Ausrottung der Ukrainer ab und ist eine Art unkonventionelle Waffe: Lenkflugkörper sollen die Energie-Infrastrukturen lahmlegen. ... Das rechtfertigt den dringenden Aufruf des ukrainischen Präsidenten, den ukrainischen Luftraum gegen Raketen abzuschirmen. ... Nur die Zusage des Westens, hochentwickelte Raketenabfangwaffen zu liefern, ist eine Garantie dafür, dass der russische Tyrann sein Ziel eines totalen Stromausfalls im Land nicht erreichen wird.“
Es droht das gleiche Schicksal wie in Aleppo
Russland wiederholt mit dem neuen Befehlshaber Surowikin eine altbekannte Strategie, glaubt Irish Examiner:
„Innerhalb von 48 Stunden nach der Beförderung Surowikins zum russischen Kommandanten in der Ukraine, wurden Erinnerungen an die Angriffe auf Aleppo wach: Russische Raketen zielten auf zivile Ziele in der Ukraine, darunter ein Spielplatz und eine große Kreuzung neben der Universität. Indem er sich Surowikin zugewandt hat, signalisiert der russische Präsident Wladimir Putin einen neuen Fokus im Kampf gegen die Ukraine, statt ernsthaft nach einem Ausweg zu suchen. Angesichts von Surowikins Bilanz in Syrien muss befürchtet werden, dass eine Stadt in der Ukraine das gleiche Schicksal wie Aleppo erleiden könnte.“
Die Entschlossenheit wird sich verstärken
Putin wird seine Ziele nicht erreichen, meint Deník:
„Schon der Zweite Weltkrieg hat gezeigt, dass Angriffe auf Zivilisten, wie sie Putin demonstrativ durchgeführt hat, nicht zum Sieg führen. Auch wird es, wie bei den Bombenangriffen der Nazis auf London, das Gemetzel nicht verlangsamen. Im Gegenteil, es wird die Entschlossenheit derjenigen stärken, die auf dem Schlachtfeld gegen Russland kämpfen. Ein Feld, auf dem die Russen seit Wochen von Niederlage zu Niederlage eilen.“
Auf absehbare Zeit keine Sicherheit
Die Hoffnung, Putin könnten bald die Raketen ausgehen, ist lediglich Zweckoptimismus, befürchtet die Süddeutsche Zeitung:
„Zu groß sind die Milliardenreserven des Kreml, zu einfach ist es Berichten von russischen und englischen Fachleuten zufolge, westliche Sanktionen zu umgehen, um sich die Hochtechnologie zur Steuerung der Marschflugkörper zu besorgen, die Russland immer noch nicht selbst herstellen kann. Die russischen Reserven an Chips und Steuerungsplatinen reichen diesen übereinstimmenden Berichten zufolge noch Jahre, um weitere Marschflugkörper herzustellen. Selbst wenn die Ukraine immer mehr davon abschießt, gibt es auf absehbare Zeit keine Sicherheit.“
In die Enge getrieben ist Putin zu allem fähig
Nach der Explosion auf der Krim-Brücke steht der Kreml-Chef mit dem Rücken zur Wand, was zu gefährlichen Reaktionen führen kann, analysiert Yeniçağ:
„Putins rote Linien wurden ins Visier genommen. ... Der Krieg ist in eine neue Phase eingetreten. ... Putin ist kein Führer, der eine Niederlage verkraften kann. Sein Schicksal ist an den Ausgang des Krieges gekoppelt. Angesichts dessen würde Putin nicht zögern, bei drohender Niederlage auch taktische Nuklearwaffen einzusetzen.“
"General Armageddon" beschönigt nichts
Unter Führung von Sergej Surowikin, einem Hardliner des Syrien-Kriegs, betreibt Russland jetzt unverhohlenen Terror, beobachtet La Stampa:
„Das russische Verteidigungsministerium meldet 'Mission erfüllt, alle Ziele getroffen', und diesmal verbergen die russischen Fernsehsender nichts, geben nicht vor, ausschließlich militärische Ziele getroffen zu haben, und zeigen triumphierend die Bombardierung und die getroffenen ukrainischen Zivilisten. Der Jubel des blutrünstigsten Teils der Nomenklatura und der öffentlichen Meinung bringt dem Kreml seine Anhänger zurück und krönt Sergej Surowikin, den 'General Armageddon' des Krieges in Syrien, bei seinem Debut in seinem neuen Amt als Befehlshaber der gesamten 'militärischen Sonderoperation' zum neuen Helden.“
Raketenabwehr weiter verstärken
Die Luftangriffe werden auf Dauer ihre Wirkung verlieren, meint Publizist Luís Delgado in Visão:
„Mehr als die Hälfte der Raketen und Drohnen wurde abgefangen und abgeschossen (fast 60 Prozent). Das zeigt an, dass die stärksten Waffen bereits an Wirksamkeit verloren haben, was militärisch eine weitere strategische Niederlage bedeutet. Der andere grundlegende Punkt betrifft die dringende Notwendigkeit, dass die Verbündeten die Raketenabwehrsysteme [der Ukraine] verstärken. ... Um diesen Krieg zu beenden, braucht die Ukraine eine eiserne Kuppel, die eine vollständige Konzentration auf die Bodenkämpfe ermöglicht.“
Blinder Terror schwächt auch den Aggressor
Die brutalen Luftangriffe werden Russland international weiter isolieren, prophezeit De Standaard:
„Das einzige, was Putin wohl erreicht hat, ist, dass der Blutdurst der Falken rund um den Kreml fürs erste gestillt ist. ... Andererseits distanziert der Kreml auch seine letzten Verbündeten von sich, allen voran China. Nur der belarusische Diktator Lukaschenka ist noch bereit, sein Schicksal an das von Putin zu knüpfen. ... In der Ukraine hat der blinde Terror gegen zivile Ziele erst recht nicht den beabsichtigten Effekt. Sorgten die Bombenangriffe im Februar noch für Panik und Angst, so zeugen nun die ersten Reaktionen von Standhaftigkeit und Kampflust. Standhaftigkeit sollte auch die Reaktion des Westens auf die russische Eskalation sein.“
Nato sollte jetzt direkt eingreifen
Einem Völkermord darf der Westen nicht tatenlos zusehen, mahnt Adevărul:
„Die Nato kann den Anspruch geltend machen, ein freies, unabhängiges und souveränes Land zu verteidigen, für den Fall, dass Russland den Völkermord gegen die Ukraine nicht beendet: die wirksame und direkte Beteiligung ihrer Streitkräfte bei der Verteidigung der Ukraine. Nicht aber für Angriffe auf russisches Territorium. Es steht im Einklang mit dem Völkerrecht, ein Land zu verteidigen, das von einem anderen angegriffen wird. Vor allem, wenn es dabei um das Leben von Millionen Bürgern geht, die potenzielle Opfer des Massakers der russischen Armee sind.“
Zivile Opfer nicht nur auf ukrainischer Seite
Zsolt Bayer, Publizist und Mitgründer der Regierungspartei Fidesz, fragt sich in der regierungsnahen Magyar Nemzet, ob für die internationale Öffentlichkeit alle Zivilisten gleich viel gelten:
„[Bei der Explosion auf der Krim-Brücke] sind drei Menschen ums Leben gekommen. Zumindest ist das die Zahl der Opfer, von denen wir bisher wissen. Keiner von ihnen war Soldat oder Politiker. ... Doch diese Opfer zählen nicht. Sie werden nie ein Gesicht, einen Namen haben oder schluchzende Angehörige, die ihren Schmerz vor der CNN-Kamera ausdrücken können. Nun wird sich zeigen, ob es als Terrorismus gilt, eine Brücke zu sprengen, auf der sich Zivilisten befinden, oder ob das mittlerweile zum normalen Geschäftsverlauf gehört.“
Vergeltung gegen zivile Infrastruktur
Russland wird jetzt noch mehr Schläge auf zivile Ziele ausführen, befürchtet Jutarnji list:
„Diese Angriffe läuten eine neue Phase des Krieges ein, in der Russland Zivilisten fernab der Frontlinie angreift, Panik und Angst sät, während der Winter naht und die Bürger mit Überschwemmungen und kalten Nächten kämpfen müssen. Im letzten Monat traf die russische Artillerie die Kraftwerke in Charkiw, Smijiw, Pawlohrad und Krementschuk, weshalb hunderttausende in den östlichen und mittleren Teilen der Ukraine ohne Strom waren. Russische Truppen zerstörten auch den Damm in Krywyj Rih, der Heimatstadt von Präsident Selenskyj, und schnitten mehrmals die nordöstliche Region Charkiw von Strom und Wasser ab.“
Schwerer Schlag für Putin
Die stark beschädigte Brücke ist ein Symbol, meint der Experte für russische Sicherheitspolitik, Mark Galeotti, in The Sunday Times:
„Die Brücke symbolisierte die Wiedervereinigung der Krim mit Russland. Sie wurde zwar nicht zerstört, aber Putin hatte sich stark mit dem Bauwerk identifiziert und bei dessen Eröffnung persönlich die erste Überfahrt mit einem Lastwagen gemacht. Das ist also nicht nur ein Schlag gegen den russischen Nationalstolz, sondern ganz konkret auch einer gegen Putin. ... Noch mehr als der Untergang des russischen Schwarzmeer-Flaggschiffs 'Moskwa' im April ist sie ein sehr sichtbares Zeichen für die Rückschläge des Kremls.“
Aus der "ewigen Verbindung" wird wohl nichts
Refat Tschubarow, Sprecher des Medschlis der Krimtataren [Selbstverwaltungsorgan], gibt auf NV seine Einschätzung zu den Folgen ab:
„Diejenigen, die sich illegal auf der Krim niedergelassen haben, geraten in Panik, denn es handelt sich nicht um irgendwelche Explosionen, sondern um eine Brücke, die, wie Putin und andere sagten, ein Symbol für die 'ewige Verbindung' der ukrainischen Krim mit Russland ist. Daraus ist wohl nichts geworden. ... Bis gestern hatte man auf der gesamten Krim eine zweite Mobilisierungswelle erwartet. Jetzt werden wir sehen, was nach dieser Explosion passieren wird. Denn die Logistik in alle Richtungen ist jetzt sehr kompliziert. Und das gilt insbesondere für die militärische Logistik aus dem Gebiet des Besatzungslandes in das Gebiet der besetzten Krim.“
Nicht kriegsentscheidend
Ilta-Sanomat analysiert die Bedeutung der Krim-Brücke:
„Neben den emotionalen Auswirkungen ist der Anschlag auf die Brücke mit ziemlicher Sicherheit auch von großer militärischer Bedeutung, da sie für Russland eine strategisch wichtige Versorgungsverbindung von Russland zur Krim und zu den Kriegsgebieten in der Südukraine darstellt - oder zumindest dargestellt hat. … Aber die Zerstörung selbst einer wichtigen Brücke wird nicht dazu führen, dass die Ukraine wieder die Kontrolle über die Krim gewinnt, und auch die Kämpfe in der Region Cherson werden dadurch nicht entschieden, geschweige denn der Ausgang des Krieges.“
Immer näher zum Atomkrieg?
Der zunehmende Druck auf Putin macht die Gefahr des Einsatzes einer nuklearen Waffe immer realer, befürchtet Népszava:
„Putin gehen langsam die militärischen Möglichkeiten aus: Er hat weder genug Waffen noch genug Soldaten. Nun ist offensichtlich, dass die russische Armee die Ukraine mit traditionellen Mitteln nicht besiegen wird - sogar die Beibehaltung der bisher eroberten Gebiete steht infrage. Der Misserfolg hat eine hyper-nationalistische Opposition ins Leben gerufen, die eine Atombombe fordert - noch zwei Wochen und Putin wird im Vergleich zu jenen eine Friedenstaube sein.“
Verhandlungsbrücken nicht kappen
Público warnt davor, alle Chancen auf Friedensverhandlungen zunichte zu machen:
„Die Krim könnte ein mögliches Zugeständnis sein bei der schwierigen Aufgabe, einen Weg zum Frieden zu finden, der keine totale und vernichtende Demütigung für Putin darstellt. Im Übrigen ist die Diskussion über die Notwendigkeit, einen Ausweg zu finden, in den letzten Tagen wieder aufgekommen, angeheizt durch das Wiederaufleben von Putins nuklearer Drohung. ...Wir dürfen dieses zunehmend isolierte Russland nicht als die 'Inkarnation des Bösen' betrachten, sonst wird es unmöglich sein, Verhandlungsbrücken für einen Ausweg zu bauen.“