Fußball-WM in Katar: Einschalten oder nicht?
Am Sonntag ist die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar mit Eröffnungszeremonie und erstem Spiel gestartet - und die Debatte über den richtigen Umgang mit dem Ereignis reißt nicht ab. Die Kritik am Gastgeberland richtet sich unter anderem gegen Menschenrechtsverletzungen beim Bau von Stadien und Infrastruktur und den Umgang mit Homosexualität. Kommentatoren diskutieren die Forderung, die Spiele zu boykottieren.
Ablenkung vom Wesentlichen
Der portugiesische Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa hat angekündigt, gleich zum ersten WM-Gruppenspiel Portugals nach Katar zu reisen. Für Público ist das ein Fehler:
„Ein Humanist und Demokrat, wie Marcelo es zweifellos ist, sollte davon ausgehen, dass der beste Weg, Portugal in den Augen der Welt anständig dastehen zu lassen, darin besteht, nicht zu gehen und zu sagen, warum nicht. Indem er dies nicht tut, versetzt er Portugal in den Zustand eines Landes, das nur auf die Fußballschuhe guckt. Es ist für das Land nicht von Interesse, so gesehen zu werden. Fußball ist nur ein Spiel, das so oft als Vorwand benutzt wird, um die Aufmerksamkeit des Landes von den wesentlichen Dingen abzulenken.“
Der richtige Gastgeber
Die westliche Kritik am WM-Austragungsort missfällt The Economist:
„Bei vielen empörten Experten hat man den Eindruck, dass sie Muslime oder Reiche einfach nicht mögen. ... Wenn die Fifa nicht möchte, dass das Turnier immer nur zwischen Finnland, Norwegen und Schweden rotiert, wird es auch in Ländern stattfinden müssen, die nicht makellos sind. Die Idee, die Weltmeisterschaft als Event global auszurollen, ist absolut richtig. Der Nahe Osten ist voller Fußballfans, war aber noch nie Gastgeber. Nie zuvor war ein muslimisches Land Austragungsort. Wenn die Fußballweltmeisterschaft an einem solchen Ort ausgetragen werden soll, ist Katar eine wirklich gute Wahl.“
Auch unser Wohlstand fußt auf Ungerechtigkeit
Ausbeutung gibt es auch in Europa, betont der Kolumnist Costi Rogozanu in Libertatea:
„Katar ist nur eine brutalere Form unseres Geheimrezeptes für Wohlstand. Das Vorenthalten von Papieren, die Erpressung mit unbezahlten Löhnen, Schichten ohne Pausen, Wochen ohne einen freien Tag - von all dem haben wir auch auf unserem sonnigen Kontinent schon gehört. Sicherlich, die Abscheulichkeiten in Katar sind zwei-, dreimal so groß. ... Es erkennt nicht an, dass sein Luxus auf unzulässiger Ausbeutung basiert, so wie westliche Bürger nicht anerkennen, dass der soziale und der landwirtschaftliche Sektor ihres Arbeitmarktes nur auf Kosten von Osteuropäern oder Afrikanern funktionieren.“
Stolz der muslimischen Welt
Für die regierungsnahe Daily Sabah ist die Vergabe nach Katar zukunftsweisend:
„Die Fußballweltmeisterschaft ist etwas Magisches und es ist großartig, sein Geld für die Vorbereitung des Landes auf die Weltmeisterschaft auszugeben. Katar ist jetzt das modernste muslimische Land der Welt mit einer hochmodernen Infrastruktur, Straßen, Verkehrsmitteln und Technologie. ... Nicht mehr nur die besonders reichen, weißen Länder richten die Fußballweltmeisterschaft aus. Ein muslimisches Land richtet das FIFA-Turnier in seinen acht prächtigen Stadien aus und es wird muslimischen Staaten den Weg ebnen, gleichberechtigter Partner der imperialistischen Staaten zu sein.“
Sport und Politik gehören zusammen
Ilta-Sanomat hofft auf Veränderungen in Katar:
„Sport und Politik sind fast immer miteinander verwoben. Es gibt große moralische Probleme mit Katar, die jetzt immer wieder angesprochen werden. Die Fußballfans mussten sich in einer noch nie dagewesenen Weise mit den ethischen Aspekten des Schauens der Spiele auseinandersetzen. Hoffentlich sprechen möglichst viele Fußball-Superstars das Thema während der WM an. … Das Beste an der WM derzeit ist, dass die Weltöffentlichkeit auf die schlechte Menschenrechtslage im Land aufmerksam geworden ist. … Es bleibt zu hoffen, dass dies einen wirklichen Wandel zum Besseren bewirkt.“
Fernseher aus!
Wer den Sport für sein Miteinander schätzt, kann sich über diese WM nicht freuen, klagt Jean-Emmanuel Ducoin, Chefredakteur der sozialistischen L'Humanité:
„Alle Gründe sprechen dafür, dieser empörenden Show kommunikativer Macht den Rücken zuzukehren, das Ganze nur noch als desillusioniertes Theater zu betrachten. … Der Kampf um einen Volkssport ist selbstverständlich nicht verloren. Doch Katar ist eine Beleidigung für dessen Zukunft. Der legendäre Trainer von Liverpool, Bill Shankly, wiederholte oft: 'Der echte Sozialismus ist der, bei dem jeder für alle anderen arbeitet und der Lohn gleichmäßig unter allen aufgeteilt wird. So sehe ich den Fußball und das Leben.' Einen Monat lang werden wir genau das Gegenteil erleben.“
Tut doch nicht so scheinheilig!
Die Neue Zürcher Zeitung hingegen stört der selektive Moralismus, der kurz vor dem Anpfiff der WM aufkeimt:
„Wie man sich auch entscheidet, eine gewisse Freudlosigkeit und ein Schuldbewusstsein werden erwartet. … Wer glaubt, dieses Jahr aus Gewissensgründen die Fussball-WM nicht schauen zu dürfen, müsste konsequenterweise noch vieles mehr boykottieren. Chinesische Produkte etwa, um nicht die Verfolgung der Uiguren zu unterstützen. Oder die Champions League, bei der Katar ebenfalls mitmischt. Oder man müsste sich kritisch fragen, wie man nach Putins Annexion der Krim die Fussball-WM in Russland schauen konnte. Die gegenwärtigen Anflüge eines schlechten Gewissens wirken so selektiv, dass sie kaum ernst zu nehmen sind.“
Arbeiter haben einen hohen Preis gezahlt
Die Generalsekretärin von Amnesty International, Agnès Callamard, fordert in El País Gerechtigkeit:
„Millionen von Wanderarbeitern haben einen hohen Preis bezahlt. Vor allem Tul Bahadur Gharti, ein 34-jähriger Nepalese, der im November 2020 im Schlaf starb, nachdem er mehr als zehn Stunden bei Temperaturen von bis zu 39 Grad auf einer Baustelle gearbeitet hatte. ... Alles, was wir verlangen, ist eine feste Zusage der Fifa, dass die Arbeitnehmer entschädigt werden. ... Wenn Gianni Infantino wirklich möchte, dass sich die Welt während der Weltmeisterschaft auf den Fußball konzentriert, muss er den Menschen, die dieses Ereignis ermöglicht haben, die Gerechtigkeit und Entschädigung zukommen lassen, die sie verdienen. Die Uhr tickt.“
Das aufgeklärte Gesicht des Islam zeigen
Die regierungstreue Star wirft dem Westen islamophobe Kampagnen vor:
„Es zeigt sich, wie der Westen den Fußball für seine eigenen Zwecke nutzt. Er tut dies konsequent. Er scheut sich nicht, bei jeder Gelegenheit Publikationen und Erklärungen zu veröffentlichen, die Islamophobie schüren. ... Allerdings bietet uns die Weltmeisterschaft, die in Katar ausgetragen wird, hier eine einmalige Gelegenheit. So wie der Westen Fußball als Mittel zur Verbreitung von Islamophobie nutzt, sollten wir ihn nutzen, um die aufgeklärte Seite des Islam zu zeigen. ... So wie der Westen die Tatsache 'Fußball ist nicht nur Fußball' für seine eigenen Interessen nutzt, sollten wir sie nutzen, um zu sagen, dass der Islam eine Religion des Friedens und der Wohlfahrt ist.“
Die Fifa wollte es so
Tagesschau.de versteht die Aufregung über den katarischen WM-Botschafter nicht:
„[Er] folgt ... mit seiner Aussage lediglich der homophoben Gesetzgebung im WM-Gastgeberland. Es ist und war allen bekannt, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen in Katar mit bis zu sieben Jahren Gefängnis bestraft werden. Queere Menschen leben in Katar in ständiger Angst. ... Und die Fifa? ... 'Konzentrieren wir uns auf den Fußball', schrieb Infantino ... . Seit Monaten ruft der Fifa-Präsident ohnehin die kommende WM als 'beste WM aller Zeiten' aus. Dieses Turnier mit all seinen Begleitumständen ist beschämend, aber es ist genau das, was die Fifa wollte.“
Sorry, not sorry
Die Fifa hat dazu aufgerufen, nur über Fußball zu reden. Wie weltfremd kann man sein, fragt sich De Standaard:
„Sorry, dass wir weiter die schlechten Arbeitsbedingungen der (meist ausländischen) Arbeitnehmer anprangern. ... Sorry, dass wir weiter Fragen stellen über Menschenrechte und über die Behauptung von Katar, dass die WM klimaneutral sein soll. Es ist ziemlich naiv von der Fifa und Katar zu denken, dass die Menschenrechtsorganisationen und die Medien sich nicht damit befassen würden. Wenn das Land sich erdreistet, alles auf die Organisation eines solchen Turniers zu setzen, muss es auch ertragen, dass man ihm auf die Finger schaut.“
Kritik könnte bald vergessen sein
Trotz der massiven Kritik am Austragungsort könnte das Turnier in Katar beim Publikum zum Hit werden, meint Kolumnistin Ysenda Maxtone Graham in The Spectator:
„Nach der Vergabe der Olympischen Sommerspiele an London klagten wir bis zu deren Eröffnung sieben Jahre lang über die atemberaubenden Kosten. Aber haben wir nicht unsere Haltung grundlegend geändert, als sich die Spiele als wunderbares Event herausstellten? Dies könnte mit Katar passieren. Ich hoffe ja innig auf leere Stadien, stelle aber erschrocken fest, dass sich die Tickets tatsächlich recht gut verkaufen.“
Menschenrechtsverletzungen sind keine "Kultur"
Bianet kritisiert, dass sich Katar hinter dem Argument versteckt, die Welt müsse seine konservative Kultur respektieren:
„Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, zu erörtern, was Kultur ist und wie sich Staaten hinter dem Begriff 'Kultur' verstecken, um Grundrechte und -freiheiten zu verletzen oder um Rechtsverletzungen der legitimen Debatte zu entziehen. Die Tatsache, dass 'entwickelte' Länder dieses Argument der 'konservativen Kultur' als stichhaltig akzeptieren und mit dem Finger auf ihre Bürger zeigen, die ihre Stimme gegen Verletzungen ihrer Rechte erheben, ruft Wut und Frustration hervor. Gerade, wenn man dies von einem Land wie der Türkei aus betrachtet, wo diese Rechte jeden Tag mehr und mehr bedroht und eingeschränkt werden.“
Keine guten Gründe für solche Veranstaltungen
The Times entkräftet typische Argumente für Sportereignisse in autoritären Staaten:
„'Aber niemand ist perfekt', so eine Verteidigungslinie. ... Die Antwort darauf lautet, dass es hier ja wohl auch auf das Ausmaß ankommt. Dann gibt es das 'Vermische nicht Sport mit Politik'-Argument, worauf die Antwort lautet: 'Zu spät, Bursche.' Der Einsatz von Sport und Kultur als Instrument staatlicher Politik und PR-Arbeit für diverse Regime ist mittlerweile die Regel. Und schließlich gibt es noch das Lieblingsargument der Fifa, 'Gastgeben wird zu Reformen führen' - eine Behauptung, die durch die Erfahrungen mit Chinas Razzien nach Olympia 2008 und durch Russlands zweifache Invasion seines Nachbarn in den Jahren 2014 und 2022 widerlegt wurde.“
Ideale Gelegenheit, mehr Rechte einzufordern
Statt über die Zustände in Katar nur zu lamentieren, sollte das Turnier für klare Forderungen genutzt werden, meint Novinky.cz:
„Rund 1,2 Millionen Menschen werden zur WM kommen. Weitere fünf Milliarden werden sie vor den Fernsehapparaten verfolgen. Es wäre eine Sünde, eine solche Plattform nicht zu nutzen. Seien wir nicht naiv: Katar wird niemals ein liberales Paradies sein. Aber ein Anfang könnte sein, dass es Arbeitnehmern freigestellt wird, Gewerkschaften zu gründen. Und es ist nebenbei bemerkt auch nicht so, dass wir keine Trümpfe in der Hand hätten. Die Katarer wünschen sich eine einfachere Möglichkeit, Visa für die Europäische Union zu erhalten. Okay, fragen wir sie, was sie dafür zu tun bereit sind.“
Noch eines der sympathischeren Länder dort
Der Spiegel stört sich daran, dass Katar immer nur auf seine Defizite reduziert wird:
„Katar ist das erste arabische, das erste muslimische Land, das eine WM ausrichtet, und die Katarer sind stolz und freuen sich darauf. ... Klar: Katar ist eine Autokratie. Es gibt dort keine Gewaltenteilung ... . Aber wer sich im Nahen Osten auskennt, stellt fest: Katar ist eines der sympathischeren Länder dort. ... [D]ie Menschenrechtslage entspricht nicht unseren Standards. Homosexualität ist Straftatbestand - das Verbot wurde übrigens maßgeblich von christlichen Kolonialherren in die arabische Welt gebracht. Es wird aber nach allem, was man weiß, nicht geahndet. ... Der Maßstab für Augenhöhe mit dem Emirat Katar kann nicht die Ausrichtung eines Christopher Street Days auf der Corniche sein.“
Heuchlerisches Öko-Bashing im Westen
Die westlichen Länder sollten sich erst einmal an die eigene Nase fassen, fordert der hauptsächlich in Katar tätige Unternehmer Georges Chebib in Le Soir:
„Wenn man die Zahlen und die Aufregung um diese Debatte liest, hat man fast den Eindruck, dass sich der Planet allein durch die Schuld Katars bis Dezember um zwei Grad erwärmen wird. Ohne die Dringlichkeit des Klimaschutzes leugnen oder den Klimaskeptikern in die Hände spielen zu wollen, wäre es dennoch hilfreich, einen Anschein von Kohärenz und vor allem Demut zu haben, wenn man vorgibt, dem Rest der Welt in dieser Frage Lektionen erteilen zu wollen. … Wenn die Pariser Bürgermeisterin wirklich den Planeten retten will, warum beschließt sie dann nicht, den wachsenden Touristenstrom nach Paris zu beschränken?“