Türkei und Syrien: Warum so viele Erdbebenopfer?
Rund eine Woche nach den schweren Erdbeben in der Türkei und Syrien dauern die Bergungsarbeiten an. Überlebende zu finden ist inzwischen fast ausgeschlossen, über 40.000 Tote wurden bisher geborgen. Während man in der Türkei angefangen hat, nach Schuldigen für die hohen Opferzahlen zu suchen, warten viele Menschen in Syrien weiterhin auf Hilfe. Ernüchterung in den Kommentarspalten.
Missachtung von Menschenleben
Korruption und Gier sind für die hohen Opferzahlen verantwortlich, erklärt Birgün:
„Die Tragödie des eingestürzten Apartmentgebäudes 'Emre' in Antep ist eigentlich die Geschichte der AKP-Türkei. Mit 22 Wohnungen und 12 Stockwerken wurde es zum Sarg für Dutzende von Menschen. Im Erdgeschoss im zentralen Stadtteil Şehitkamil wurden tragende Wände entfernt, um Platz für eine Bankfiliale zu schaffen. ... Es ist ein Paradebeispiel dafür, wie kapitalistische Profitgier und mangelnde Kontrolle das menschliche Leben missachten und wie ein ganzes System dies zulässt. ... In ähnlicher Weise wurden in Diyarbakırs Stadtteil Yenişehir die tragenden Säulen der eingestürzten Blöcke B und D des vierstöckigen Galeria-Gebäudes für eine Tiefgarage und einen Supermarkt beseitigt.“
Für Opportunismus gibt es keine Bilder
In der Türkei werden inzwischen vermehrt Bauunternehmer festgenommen, stellt Volkskrant-Kolumnist Frank Heinen fest:
„Bilder werden verbreitet von Festnahmen von Männern, die verantwortlich für die untauglichen Gebäude sein sollen. Die Beamten und Politiker, die Freistellung und Amnestie erteilten für die Baupläne, die gegen die Regeln verstießen, bleiben bislang noch unangetastet. Jahrelang bekam der türkische Bausektor vom Staat freie Bahn, und nun wird er von demselben Staat verfolgt. Der Wind hat sich gedreht. ... Im Film Le mani sulla città von 1963 stürzt ein Hochhaus ein in Neapel. Es gibt Tote und Verletzte. ... 'Unsere Hände sind sauber', rufen die Stadträte. ... Auch dort: Inkompetenz, Opportunismus. “
Kismet als Alibi
Der Kolumnist Pantelis Boukalas kritisiert in Kathimerini die Haltung Erdoğans:
„Der türkische Präsident hat bei seinen abgesicherten Besuchen in den erdbebengeschädigten Städten nur eine Antwort und einen 'Trost' für die Opfer parat: Kismet [Schicksal im Islam]. Dieselbe Antwort, deren Amoralität sich nicht unter ihrem pseudoreligiösen Deckmantel verbergen lässt, gab auch ein Bauunternehmer, als er gefragt wurde, warum ein von ihm gebautes Wohnhaus in Sekundenschnelle einstürzte und 80 Menschen tötete: 'Kismet, natürlich'. Kismet dient als Alibi. Aber ein Staat wird gegründet und handelt, um dem Kismet entgegenzutreten, es zu überwinden, zu besiegen oder zumindest seine angeblich vorherbestimmten Folgen abzumildern. ... In der Türkei trägt Kismet den Namen von Erdoğan.“
Warum in Erzin alle Häuser stehen
Inmitten der Zerstörung gibt es Beispiele für erfolgreichen Erdbebenschutz, bemerkt Yeni Asya:
„In der Provinz Hatay, die durch die Erdbeben fast vollständig zerstört wurde, stürzte im Bezirk Erzin kein einziges Gebäude ein. ... In der Stadt Erzin, die 42.000 Einwohner zählt und 20 Kilometer von Osmaniye und 110 Kilometer von Antakya entfernt liegt, die beide von dem Erdbeben schwer getroffen wurden, ist niemand ums Leben gekommen. Der Grund dafür ist der Gleiche wie in Tavşancıl, wo sich bei dem Erdbeben von 1999 nicht einmal ein Nagel bewegte: Illegale Bauten wurden nicht zugelassen. Reichen diese beiden Beispiele nicht aus, um die Verwalter und die Verwalteten davon zu überzeugen, vor dem Erdbeben umfassende Vorsichtsmaßnahmen zu treffen?“
Assads zynisches Kalkül
Die Rebellenregionen in Syriens Norden können weiterhin kaum auf Hilfe hoffen, warnt La Repubblica:
„Das Problem besteht im Wesentlichen darin, dass Damaskus den Anspruch erhebt, die internationale Hilfe für das gesamte Gebiet zu 'genehmigen' und zu verteilen, einschließlich der nicht kontrollierten Regionen, insbesondere im Nordwesten, in der Region Idlib und in ganzen Stadtteilen von Aleppo, den am stärksten betroffenen Zonen. In Idlib forderte das Erdbeben die meisten Opfer und richtete die meisten Schäden an, denn eben dorthin trieb Assad die Rebellen aus anderen Gebieten, um dank russisch-iranischer Hilfe die Kontrolle über große Teile des Landes wiederherzustellen. Die Region Idlib ist somit mit schätzungsweise vier Millionen Menschen vollkommen überbevölkert.“
Die türkisch-griechische Freundschaft lebt
Den Journalisten Hakkı Öcal von Daily Sabah berührt der Einsatz griechischer Hilfskräfte im Krisengebiet ganz besonders:
„Vielleicht haben wir die Brüderlichkeit der Menschen auf der anderen Seite der Ägäis vermisst, die wir durch die hässliche Politik von Mitsotakis verloren glaubten. Vielleicht gab es seit der Ära von Alexis Tsipras kein Zeichen dieser Brüderlichkeit mehr. ... Tausende von Brüdern und Schwestern aus verschiedenen Ländern suchen seit den ersten Stunden dieser Katastrophe bei eisigen Temperaturen nach Überlebenden, aber ich hoffe, dass die 420 [griechischen] Mitarbeiter unter ihnen ein Zeichen der Brüderlichkeit des griechischen Volkes sind, die die Politik nicht töten konnte. ... Das ist der wahre Moment der Hoffnung inmitten des Grauens.“
Ein kleines Bisschen Normalisierung
Auch Kathimerini begrüßt den Einsatz griechischer Retter:
„Die sogenannte Erdbebendiplomatie hat sich in der Vergangenheit als sehr wirkungsvoll erwiesen. ... Eine Naturkatastrophe, wie groß sie auch sein mag, ist natürlich kein Schalter, der die bilateralen Beziehungen auf einmal vollständig normalisiert, aber sie kann als Katalysator wirken, um in der Praxis die tatsächliche Haltung des einen Landes gegenüber dem anderen zu zeigen, und es kann zweifellos die angesammelten Spannungen in den griechisch-türkischen Beziehungen abbauen, die eine Quelle ständiger Sorge sind.“
Politische Konsequenzen, bitte!
Eine Abwahl Erdoğans im Mai wäre für Politiken folgerichtig:
„Vieles deutet darauf hin, dass Erdoğan seiner Verantwortung nicht gerecht geworden ist. In seinen zwei Jahrzehnten an der Macht hat er zu wenig getan, um die Bürger vor den Erdbeben zu schützen, für die die Türkei so anfällig ist. ... Um der Türkei willen muss man hoffen, dass das Erdbeben politische Veränderungen im Land zur Folge haben wird - am besten hin zu mehr Demokratie und Liberalität, im Gegensatz zu Erdoğans Führungsstil, der immer autokratischere Formen annimmt. In drei Monaten sind Präsidentschaftswahlen. Eine Niederlage oder zumindest ein großer Stimmenverlust für den starken Mann der Türkei wäre gut für die Türkei und für Europa.“
Erdoğan dürfte Wahlen verschieben
Der türkische Präsident wird dafür sorgen, dass er sich nicht inmitten einer ihm zugeschriebenen Krise den Wählern stellen muss, glaubt The Economist:
„Erdoğan steht im Mai vor einer Wahl, die aufgrund der strauchelnden Wirtschaft und seiner törichten Geldpolitik, die eine Inflationsrate von über 50 Prozent verursacht hat, ohnedies schon schwierig für ihn geworden wäre. ... Die Wähler werden seine Reaktion auf das Erdbeben zur Kenntnis nehmen und sich fragen, warum seine Regierung seit dem Erdbeben von 1999 nicht mehr getan hat, um sich auf eine solche Katastrophe vorzubereiten. Und er weiß das. Die Staatsanwaltschaft hat bereits Ermittlungen gegen zwei Journalisten eingeleitet, die die Reaktion des Staates kritisiert haben. ... Nun könnte er die Wahlen verschieben.“
Endlich besser bauen
Eine Risikoanalyse ergab, dass ein schweres Erdbeben in Bukarest mehr als 6.500 Menschenleben fordern könnte. Über 2.400 Gebäude gelten als einsturzgefährdet. Adevărul-Kolumnist Ștefan Vlaston schreibt:
„Die Bilder aus der Türkei zeigen uns etwas. Dass einige Gebäude trotz des Erdbebens stehengeblieben sind, umringt von zig eingestürzten Bauten. Was hat den Unterschied ausgemacht? Eine Gebäudekonstruktion, die den Anforderungen des Erdbebenschutzes Rechnung trägt. Die anderen, die meisten, haben den Tod von Tausenden, vielleicht auch Zehntausenden Menschen mitverursacht. Sie alle haben darauf vertraut, dass die türkischen Behörden ihre Arbeit tun, für die sie aus Steuergeldern bezahlt werden. Die Türkei hat, wie Rumänien, Erfahrung, was die Auswirkungen von Erdbeben angeht. Beide haben nichts gelernt.“
Quittung für korrupte Baupolitik
Erdoğan trägt eine Mitverantwortung für diese Katastrophe, zeigt Naftemporiki auf:
„Er kam vor 20 Jahren an die Macht, nach einem anderen schweren Erdbeben im Jahr 1999, bei dem 18.000 Menschen starben. In diesen 20 Jahren hat es seine Regierung versäumt, das Land auf ein solches Erdbeben vorzubereiten. Nach dem verheerenden Erdbeben von 1999 wurde eine 'Anti-Erdbeben-Steuer' eingeführt, [unter anderem] um neue öffentliche Gebäude in gefährdeten Gebieten erdbebensicher zu machen. ... Stattdessen ist das Geld an andere Orte geflossen, wie die Opposition anprangert. Geld des Volks wurde verschwendet. Große Bauunternehmen mit Verbindungen zu Staatsmacht und Regierungspartei wurden mit dem Bau dieser Gebäude beauftragt, ohne dass die Erdbebenschutzvorschriften eingehalten wurden.“
Vielleicht führt Druck zu effektiven Maßnahmen
Die Katastrophe stellt ein Risiko für Erdoğan dar, aber das könnte auch Gutes bewirken, glaubt Magyar Narancs:
„Die Frage der Verantwortung wird ein wichtiger Teil des Präsidentschaftswahlkampfs sein, und das nicht ohne Grund: Das illiberale und autoritäre Erdoğan-Regime, eingeschlossen sein Fachapparat, hat wenig getan, um die Folgen von Erdbeben abzumildern. .... Dies könnte die türkischen Behörden zu schnellem Handeln motivieren. Sie können es sich auch nicht leisten, eine der größten Randregionen des Landes und deren Bevölkerung, die zu einem großen Teil kurdischer Herkunft ist und daher als rebellionsanfällig gilt, im Stich zu lassen.“
Eher kein Wendepunkt in der türkischen Politik
Noch hat Erdoğan alle Chancen, auch diese Krise zu überstehen, meint Deník N:
„Das Land wird von einer Inflation von über fünfzig Prozent geplagt, die Löhne halten mit dem Tempo der Preissteigerungen nicht Schritt. Im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise hat Erdoğan ein massives Hilfspaket angekündigt, das ihm helfen könnte, einige Wähler zurückzugewinnen. Als Reaktion auf das Erdbeben versprach er ein weiteres finanzielles Hilfspaket. ... Wenn es Erdoğan gelingt, Kritik mit großen Gesten und fortgesetzter Hilfe zu übertönen, kann er seinen Ruf als fähiger Führer vor der Wahl wahren. Bisher deutet nichts darauf hin, dass die aktuelle Situation den treuesten Kern seiner Wähler brechen wird.“
Wahlkampf bitte auf später verschieben
Die Opposition wirft der Regierung Versagen vor, weil Hilfe das Katastrophengebiet zu spät und unzureichend erreichte. Jetzt muss politische Einheit das Gebot der Stunde sein, mahnt die regierungstreue Yeni Şafak:
„Vor dem Erdbeben herrschte in der Türkei ein zunehmend hitziger Wahlkampf. Das ist normal. Aber jetzt befinden wir uns in einer Ausnahmephase, und jeder muss unserem Land und der Welt zeigen, dass wir vereint sind. Politische Debatten können später immer noch geführt werden. Die Katastrophe zu einem Teil dieses Kräftemessens zu machen, insbesondere sie als Chance zu sehen, wird unserem Land und unserer Nation nur schaden. Unser Volk wird es nicht begrüßen, dass diese Situation so ausgenutzt wird.“