Schleppende Gegenoffensive: Mehr Waffen für Kyjiw?
Die am 4. Juni gestartete Gegenoffensive der Ukraine in ihrem Verteidigungskrieg gegen Russland scheint zu stocken, bedeutende Gebietsgewinne blieben bisher aus. In Europa werden weitere Waffenlieferungen diskutiert. Aktuell geht es um deutsche Marschflugkörper vom Typ Taurus mit 500 Kilometern Reichweite, um die Kyjiw gebeten hat. In den Kommentarspalten überwiegt die Ungeduld.
Der Westen ist zu zögerlich
Wer die Hauptschuld für das nur mühsame Vorankommen der ukrainischen Armee trägt, ist nach Meinung des öffentlich-rechtlichen Hörfunksenders Český rozhlas klar:
„Obwohl bereits im September 2022 bekannt war, dass die Ukraine nicht auf westliche Panzer-Hilfe verzichten kann, wurde der entsprechende Beschluss erst im Januar dieses Jahres verabschiedet und nur teilweise umgesetzt. Bei modernen Kampfflugzeugen steckt alles noch in den Anfängen. ... Die Folgen dieses eher laxen Verhaltens des Westens haben wir seit dem Frühjahr gesehen: Die Ukraine konnte ihre Gegenoffensive erst im Juni starten und stieß auf riesige Minenfelder und die gut organisierte Verteidigung der Russen.“
Den Blutzoll kleinhalten
Visão fordert die Verbündeten der Ukraine dazu auf, umgehend mehr Waffen zu liefern:
„Die Ukrainer müssen alles, was sie in den letzten Monaten erhalten und trainiert haben, in die Schlacht werfen, um das Asowsche Meer zu erreichen. ... Es gibt einen klaren ukrainischen Vorstoß in Richtung Asowsches Meer, die Desertionen und Fluchten russischer Soldaten nehmen zu, die Spezialeinheiten operieren bereits sehr nahe an dem vorrangigen militärischen Ziel im Süden, wie zum Beispiel der Stadt Melitopol - aber all diese Anstrengungen, erfordern eine zahlenmäßige Vervielfachung des Arsenals, wenn sie nicht länger langsam und blutig sein sollen. Für die Ukraine gibt es nur den Sieg, und nur der Sieg sollte auf dem Tisch der Verbündeten liegen.“
Game Changer Taurus
Taurus-Marschflugkörper wären für die Ukraine besonders im Hinblick auf die Krim zentral, meint Krystyna Bondarewa von Ukrajinska Prawda:
„Taurus wird als entscheidend für die Befreiung der ukrainischen Gebiete einschließlich der Krim bezeichnet. Aufgrund ihrer Reichweite können diese Raketen die gesamte Halbinsel abdecken. Mit Taurus wären die russischen Truppen auf der Krim laut Roderich Kiesewetter, Außenpolitikexperte der oppositionellen CDU, von den russischen Nachschublinien abgeschnitten, und Russland wäre gezwungen, die Krim aufzugeben. Die immer häufigeren Angriffe Russlands auf ukrainische Luftwaffenstützpunkte zeigen, dass die russische Militärführung die Bedrohung durch westliche Langstrecken-Marschflugkörper ernst nimmt.“
Schwer absehbare Folgen
Kanzler Scholz und Verteidigungsminister Boris Pistorius zögern bei Taurus aus gutem Grund, findet die Süddeutsche Zeitung:
„Der Unterschied zu den deutschen Systemen, welche die Ukraine bislang erhielt: Mit dem Taurus wäre es ihr noch leichter möglich, Ziele tief auf russischem Gebiet anzugreifen. Flughäfen zum Beispiel, von denen aus Russland seine Luftangriffe startet, Gefechtsbunker oder Depots, mit denen Putins Armee ihren Krieg am Laufen hält. Auch wenn die Ukraine diese Waffe nur zu ihrer Verteidigung einsetzen würde - der Krieg würde dadurch räumlich ausgeweitet, mit schwer absehbaren Folgen. ... Ein kurzes Innehalten ist mehr als angebracht.“
Die stärkste Waffe ist der Hunger
Schlüsselelement für den weiteren Verlauf des gesamten Krieges ist das Getreide, analysiert La Repubblica:
„Die von Moskau am 17. Juli angeordnete Blockade des Seekorridors im Schwarzen Meer hat die Frage der Getreidelieferungen wieder in den Mittelpunkt gerückt, da die Preise wieder steigen und allgemeine Versorgungsprobleme auftreten. Damit hat Putin in gewisser Weise die Gespräche für einen Waffenstillstand beschleunigt. De facto verweisen die derzeitigen Vermittlungsversuche auf die Dringlichkeit der Wiederaufnahme der Ausfuhren landwirtschaftlicher Erzeugnisse: Von den Saudis bis zur Afrikanischen Union, von den Emiraten bis zu den Chinesen, alle stellen die Getreidefrage als Schlüsselelement zur Beendigung der Feindseligkeiten dar.“
Ein ziemlicher Fehlschlag
Die Ukraine kommt nur ernüchternd zäh voran, schreibt Dnevnik:
„Nach Angaben der stellvertretenden Verteidigungsministerin Hanna Maljar hat die Ukraine in den zwei Monaten seit Beginn der Gegenoffensive nur 241 Quadratkilometer im Süden und Südosten zurückerobert. ... Russland besetzt weiterhin einen Fünftel des Landes. ... Die Frühjahrsoffensive ist zur Sommeroffensive geworden. Bald wird sie als Herbstoffensive fortgesetzt. Die Russen nennen sie immer wieder einen 'Fehlschlag' und wenn man sich die Landkarte anschaut, muss man ihnen Recht geben.“
Im selbst verursachten Sumpf versackt
Politologe Wladimir Pastuchow gibt in einem von Echo übernommenen Telegram-Post dem Kreml keine Siegchance:
„Die unerwartete Hartnäckigkeit der Ukrainer, die wie einst die afghanischen Mudschahedin ihre kompromisslose Bereitschaft zum Kampf gegen Russland demonstrierten, hat zuvor nicht offensichtliche Schwachstellen von Putins 'neuem Imperium' aufgezeigt. ... Der Krieg hat sich für Russland von einem erfrischenden Schauer in einen endlosen Tropenregen verwandelt, der Wiesen zu Sümpfen macht. Und nun bekommt man die Stiefel aus diesem Sumpf nicht mehr heraus. Mehr noch: Die Bereitschaft der Ukrainer (nicht nur von Selenskyj und seinem Büro) zu kämpfen wird die Richtung der Geschichte mehr bestimmen als der Wunsch des Westens, den Krieg irgendwann zu stoppen.“
Schwarzes Meer ist nicht mehr sicher
Dass der Krieg so nahe an die Türkei gerückt ist, besorgt Karar:
„Dass sich die Stimmung am Schwarzen Meer immer weiter aufheizt und es immer öfter zum Gegenstand heißer Konflikte wird, beunruhigt die ganze Welt und natürlich vor allem die Anrainerstaaten, insbesondere die Türkei. ... Gut möglich, dass es nicht bei Angriffen auf die Häfen der beiden Länder bleibt. Die Entscheidung der Ukraine, aus dem russischen Hafen Noworossijsk einen unsicheren Hafen zu machen, könnte den internationalen Ölhandel hart treffen. Die Ereignisse im Schwarzen Meer müssen genauer beobachtet werden.“
Stimmung bei Unterstützern droht zu kippen
Diena blickt besorgt in die USA, wo laut einer aktuellen CNN-Umfrage mehr als die Hälfte der Bevölkerung gegen zusätzliche Mittel für die Ukraine ist:
„Selbst für die eifrigsten Unterstützern der Ukraine ist es schwierig, nicht auf die Stimmung der Wähler im Vorfeld der US-Präsidentschaftswahlen zu reagieren. Aber eine solche Reaktion schwächt leider auch den Wunsch anderer westlicher Länder, die Ukraine weiterhin zu unterstützen, umso mehr, weil auch dort ähnliche Trends beobachtet werden können. Wenn etwas nicht berücksichtigt wird, dann die Tatsache, dass ein Waffenstillstand der russischen Aggression definitiv kein Ende setzen, sondern den Konflikt selbst im besten Fall nur vorübergehend einfrieren würde.“
Bevölkerungen im Westen halten Ukraine die Stange
Keine nachlassende Unterstützung im Westen erkennt der Politologe Linas Kojala auf LRT:
„Die Befürchtungen über westliche Ermüdungserscheinungen, die von der Kremlführung so sehr erwartet wurden, haben sich bisher nicht bestätigt. Die Unterstützung für die Ukraine stagniert zwar - sie könnte schneller und umfassender sein. Aber die Entscheidungsträger stehen nicht unter Druck seitens der Wählerschaft, ihren Kurs grundsätzlich zu ändern. ... Für den Moment sollten wir froh sein, dass die Einheit des Westens den Herausforderungen standgehalten hat. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist der aufopfernde Kampf der Ukrainer bei der Verteidigung ihres Landes und Europas insgesamt.“