Was wird nach dem Erdbeben in Marokko sichtbar?
Bei einem schweren Erdbeben mit Epizentrum im Atlasgebirge sowie mehreren Nachbeben sind in Marokko mindestens 2.100 Menschen ums Leben gekommen. Die Suche unter den Trümmern geht weiter. Hilfsangebote aus dem Ausland wurden vorerst nur zum Teil angenommen - entsprechend einer "sorgfältigen Bewertung des Bedarfs vor Ort", so das Innenministerium in Rabat.
Ein König mit dem Rücken zum Volk
El Mundo kritisiert das Verhalten von König Mohammed VI.:
„Die ersten Worte, die das Königshaus an die Bevölkerung richtete, kamen erst [nach 18 Stunden], am Samstagabend um acht Uhr, in Form eines Kommuniqués, dessen Kälte im starken Gegensatz zu den warmen Trauerbekundungen anderer Staatsoberhäupter steht. ... Mohammed VI. wies das Hilfsangebot von Paris zurück und gab bisher nur Spanien, dem Vereinigten Königreich, den Emiraten und Katar grünes Licht. ... Mohammed VI., 59 Jahre alt und bei schlechter Gesundheit, verbringt fast mehr Zeit außerhalb Marokkos als im Land. ... Das Erdbeben lässt ihn als Staatsoberhaupt erscheinen, das mit dem Rücken zum Volk lebt. Das vertieft die Krise der alevitischen Monarchie und wirft Fragen über deren Zukunft auf.“
Nach dem Beben kommt die Politik
In der Reaktion auf Naturkatastrophen zeigen sich oft die Konsequenzen politischer Veränderungen, bemerkt die Süddeutsche Zeitung:
„Im Falle Marokkos dreht sich dabei vieles um die Westsahara, Spaniens ehemalige Kolonie, seit 1975 unter marokkanischer Kontrolle. Spanien, das sich in der Westsahara-Frage erst vor Kurzem auf die Seite Marokkos schlug, hat Rettungskräfte entsandt. ... Marokkos Nachbar Algerien wiederum unterstützt die Saharaouis, die Einwohner Westsaharas, in ihrem Ringen um Souveränität - und ließ sich mit einer Kondolenzbotschaft nach dem Erdbeben deutlich Zeit. Inzwischen hat es immerhin seinen Luftraum für Hilfsflüge geöffnet. Im besten Fall kann eben auch dies eine politische Folge von Naturkatastrophen sein: dass verfeindete Staaten sich wieder annähern.“
Das moderne Marokko scheint standzuhalten
Der in Marokko lebende Publizist Raul M. Braga Pires stellt in TSF fest, dass im Vergleich zum Erdbeben in der Türkei die Analyse der Erdbebenschäden in Marokko nicht auf schwere Fehler hinweist:
„Die Bilder und Berichte lassen den Schluss zu, dass dies nicht der Fall ist, und sie bestätigen einmal mehr die so genannte 'marokkanische Ausnahme', die das Königreich während des Arabischen Frühlings im Gegensatz zum allgemeinen Chaos in der Region von Tripolis bis Sanaa auszeichnete. … Das eher halbvolle als halbleere Glas zeigt vorläufig an, dass die Städte den Erschütterungen standgehalten haben, während die traditionellen Steinhäuser der ländlichen Gebiete eingestürzt sind, was die Menschen das Leben kostete, die dort Zuflucht suchten.“
Es wird auch Kritik hageln
Nach der anfänglichen Solidaritätswelle wird sich der Blick auf die begangenen Fehler konzentrieren, prophezeit Libération:
„In allen oder fast allen Städten des Königreichs wurden sehr schnell Sammelstellen für lebensnotwendige Güter oder Blutspenden eingerichtet. Bekannte Persönlichkeiten – Sportler, Schauspieler, Komiker – haben sofort unterstützt, manchmal auch finanziell. Selbst der langjährige Feind Algerien öffnete spontan seinen Luftraum, um die Hilfsmaßnahmen zu erleichtern. Doch früher oder später wird die Zeit der Abrechnung kommen, in der die Verantwortlichen die Schuld auf sich nehmen müssen, weil die Rettungsmaßnahmen zu lange dauerten oder die erdbebensicheren Normen an manchen Orten nicht eingehalten wurden.“