Massenflucht aus Bergkarabach: Wie geht es weiter?
Nach dem militärischen Sieg Aserbaidschans in Bergkarabach fliehen Zehntausende armenische Zivilisten, die fürchten, entweder vertrieben oder von den neuen aserbaidschanischen Machthabern unterdrückt zu werden. Für weitere Angst sorgte eine Explosion nahe der Gebietshauptstadt Stepanakert, bei der mindestens 68 Menschen getötet und Hunderte verletzt wurden. Kommentatoren fragen, welche Reaktionen sinnvoll sein könnten.
Worte des Westens waren wertlos
Der Westen lässt die Armenier wieder im Stich, wettert Philosoph Bernard-Henri Lévy in La Repubblica:
„Erst ermutigten wir sie. Überhäuften sie mit guten Worten. Doch als Putin mit seinen zweitausend 'Friedenssoldaten' das Ruder an sich riss und das aufständische Volk seinem Komplizen Erdoğan auslieferte, zeigten wir einmal mehr unsere Unfähigkeit, unseren Verbündeten zu schützen. Seitdem ist die Tragödie von Bergkarabach und eines Tages vielleicht auch von Armenien ein Test, ein Prüfstein. Entweder stellen wir uns ohne Zögern auf die Seite dieses befreundeten Volkes und verhängen gegen Aserbaidschan die gleichen Sanktionen wie gegen Russland, oder unser Wort wird wertlos – und ein Bündnis mit dem Westen wird eher zur Gefahr, als dass es erstrebenswert wäre.“
Historische Chance auf ein Ende der Gewalt
Auf Facebook hofft der Historiker Andrei Subow auf eine Aussöhnung:
„Die Gespräche, die demnächst zwischen Alijew und Paschinjan in Spanien beginnen, könnten nicht nur die heutigen Probleme Karabachs behandeln, sondern die gesamte 35-jährige Tragödie des Südkaukasus. ... Ich bin mir sicher, die internationale Gemeinschaft wird beiden Nationen helfen, die in einer nationalegoistischen Verblendung – verstärkt durch die archaische Vorstellung von 'eine Nation - ein Land' – zahlreiche Verbrechen gegen ihre Nachbarn und ihre eigene Seele begangen haben. Wenn Aserbaidschan nun, den Appellen der Weltgemeinschaft folgend, großherzig den ersten Schritt in diese Richtung tut, wird es Ruhm, Respekt und beträchtlichen Gewinn einheimsen.“
Nachitschewan-Korridor wird der nächste Krisenherd
Radio Kommersant FM befürchtet eine Ausweitung des Konflikts über Bergkarabach hinaus:
„Das nächste Ziel Bakus ist es, einen Korridor zwischen dem aserbaidschanischen Kerngebiet und der Autonomen Republik Nachitschewan zu schaffen, die heute durch armenisches Territorium getrennt sind. Zumal aserbaidschanische Nationalisten, deren Thesen von der durch den Sieg beflügelten Zentralregierung zunehmend übernommen werden, dieses Areal nicht als armenisch, sondern als ihr eigenes betrachten. ... Die Gefahr ist groß, dass sich dieses Thema nicht auf Verkehrs- und Logistik-Fragen beschränkt und der Appetit mit dem Essen kommt - und dass Baku beschließt, das Eisen zu schmieden, solange es heiß ist, und die Armenier zu erledigen, solange die Weltlage dafür einmalig günstig ist.“
Ankara muss Fingerspitzengefühl zeigen
Die Türkei muss sich schützend sowohl vor Aserbaidschan als auch vor Armenien stellen, mahnt T24:
„Ankara sollte ein Mentor für Jerewan und Baku sein und Paschinjan davor warnen, Russland weiter zu verärgern. Baku wiederum kann geraten werden, Schritte zu vermeiden, die Paschinjans Macht weiter gefährden würden. Das Treffen zwischen Erdoğan und Alijew in Nachitschewan ist von symbolischer Bedeutung. Allerdings wurde hier nicht, wie von einigen ausländischen Kommentatoren erwartet, ein Ultimatum zur schnellstmöglichen Öffnung des Sangesur-Korridors gestellt. Um den Mittleren Korridor nicht zu gefährden, erfordert das Thema Sangesur eine fein abgestimmte Diplomatie.“
Ein Volk in Angst
Wer als Armenier Bergkarabach nun nicht verlässt, weiß nicht, was die Zukunft bringt, so Konfliktanalyst Iulian Chifu in Adevărul:
„Die größte Sorge gilt derzeit den Aussichten der armenischen Minderheit in Karabach. Die aserbaidschanische Seite hat angekündigt, dass es der Minderheit freisteht, aserbaidschanische Pässe und Behörden zu akzeptieren oder frei nach Armenien oder Russland abzuziehen. Man schätzt, dass von den 120.000 Armeniern in der Enklave zwischen 50.000 bis 70.000 die aserbaidschanische Region verlassen wollen. Das Hauptproblem besteht in den Sicherheitsgarantien, die Aserbaidschan - ohne Beteiligung Armeniens, Russlands oder einer europäischen Organisation - anbieten könnte. Die Befürchtungen reichen von Ausgrenzung und schrittweiser Vertreibung bis hin zu Diskriminierung und 'ethnischer Säuberung'.“
Baku braucht klare Ansagen
Die EU muss Aserbaidschan Grenzen aufzeigen, fordert De Volkskrant:
„Die EU will mit amerikanischer diplomatischer Unterstützung zwischen beiden Ländern vermitteln. ... In einer ironischen Wendung bezieht die EU außerdem seit Kurzem einen Teil des Gases, das es nicht länger von Moskau abnehmen will, aus Baku. Trotz der Verhandlungen beider Länder mit der EU und zum Teil auch noch mit Russland ist es seit mehr als einem Jahr deutlich, dass Aserbaidschan knallhart verhandelt. Die eklatanten Menschenrechtsverletzungen können ein Vorbote sein für schlimmere Gewalt, wenn die Ambitionen von Aserbaidschan nicht eingedämmt werden. Die EU muss nun beweisen, dass ihre Außenpolitik weiter reicht als ihre neue Gas-Abhängigkeit von Baku.“
Moskau will Armenien destabilisieren
Russland wird versuchen, den Einfluss in Armenien wieder zu verstärken, analysiert Politologin Ina Paitjan in einem offenen Brief, den unter anderem La Libre Belgique veröffentlicht hat:
„Die russischen Behörden tragen dazu bei, Auseinandersetzungen innerhalb der armenischen Bevölkerung zu provozieren, um das Land von innen heraus zu schwächen und zu destabilisieren. Prorussische Unterstützer in Armenien und Russland versuchen, die Armenier zu spalten, um die Paschinjan-Regierung durch eine prorussische zu ersetzen. Ihr Streben nach demokratischen Werten, ihren Kampf gegen die Korruption und ihre Distanzierung von Moskau müssen die Armenier teuer bezahlen.“
Falls es je eine Pax Russica gab, ist sie nun vorbei
Russlands mangelnde Loyalität hat Folgen für die ganze Region, meint The Times:
„Die Lehre für Russlands frühere Verbündete ist klar: Solange Russland einen blutigen Feldzug gegen Kyjiw führt, hat es weder die Energie noch die Kapazitäten, Angriffe anderswo abzuwehren. Falls es je eine Pax Russica gab, dann ist diese in der späten Putin-Ära verkümmert und elendig verendet. ... Putins Aufmerksamkeit hat sich verschoben und seine mangelnde Loyalität gegenüber Nachbarn und traditionellen Verbündeten wie Armenien wird er teuer bezahlen. Das Ergebnis, so armenische Analysten, könnte ein Scheitern der Gespräche und ein neuer, ausgeweiteter Krieg sein, in den bis Ende des Monats die Türkei, der Iran und vielleicht auch Russland hineingezogen werden könnten.“
Aserbaidschans Sieg hält Russland den Spiegel vor
Politologe Valeri Solowej vergleicht Bakus Karabach-Operation mit der Ukraine-Invasion und zieht auf Facebook ein für Moskau wenig schmeichelhaftes Fazit:
„Es ist möglich, ein internationales Problem militärisch zu lösen, wenn: 1) das Völkerrecht (oder zumindest einige Aspekte davon!) auf der eigenen Seite steht; 2) keine Gefahr besteht, dass eine mächtige externe Kraft das Geschehen als Bedrohung für sich selbst wahrnimmt und eingreift; 3) die militärischen Fähigkeiten den politischen Zielen entsprechen. ... Unter der Führung seiner weisen Kreml-Ältesten hat Russland alle möglichen Fehler gemacht. Seine 'militärische Sonderoperation' wird für Jahrzehnte der Welt ein Beispiel sein, wie man es NICHT machen sollte.“