Vorerst kein US-Geld für Kyjiw: Düstere Aussichten?
Der US-Senat hat von US-Präsident Joe Biden beantragte Finanzhilfen in Höhe von über 110 Milliarden Dollar (knapp 102 Mrd. Euro) für die Ukraine und Israel blockiert. Sämtliche Republikaner sowie Bernie Sanders, der Bedenken zu Israels Vorgehen in Gaza geäußert hatte, stimmten dagegen. Da auch die weiteren EU-Hilfen für Kyjiw auf der Kippe stehen, debattiert Europas Presse lebhaft, wie es für die Ukraine nun weitergehen soll.
Innenpolitisches Gefeilsche
El Mundo ist besorgt:
„Die Verbündeten Kyjiws spüren die Auswirkungen des Konflikts, sind in ihre eigenen internen Konflikte und in den Krieg im Nahen Osten verwickelt. ... Doch weder Europa noch die USA können zulassen, dass der Krieg in der Ukraine zu einem eingefrorenen Konflikt wird. Das erleben wir gerade in den USA, wo der Kongress neue Mittel blockiert. ... Die Ursache ist innenpolitisch: Die Republikaner verlangen, dass Joe Biden im Gegenzug für das neue Paket seine Einwanderungspolitik an der mexikanischen Grenze verschärft. Es ist nicht wünschenswert, dass innenpolitische Konflikte genutzt werden, um auf diese Weise um einen Krieg zu feilschen, in dem die Sicherheit Europas und die Verteidigung der Demokratien der freien Welt auf dem Spiel stehen.“
Ein Sieg Moskaus wäre für Washington noch teurer
Anhaltende westliche Hilfe für die Ukraine hält den Kreml vor weiteren Angriffskriegen ab, erklärt Irish Independent:
„Sollte Russland gegen Nato-Verbündete wie die kleinen baltischen Staaten Lettland und Estland vorgehen, ganz zu schweigen von Polen oder einem anderen großen Nato-Verbündeten, dann wäre Washington vertraglich verpflichtet, Truppen zu schicken, um diese Staaten zu verteidigen. ... Die Kosten für den Einsatz von US-Truppen zur Verteidigung gefährdeter Nato-Verbündeter gegen eine Atommacht sind schwer abzuschätzen. Doch wenn man sich vor Augen führt, wie viel die USA für andere Kriege in diesem Jahrhundert aufwenden mussten, wird klar, dass die Kosten enorm wären – jedenfalls viel größer als die Mittel des Kongresses für die Ukraine.“
In Europa dasselbe Szenario
Le Figaro erkennt Parallelen im Verhalten der Republikaner zu Orbán:
„Europa macht es kaum besser mit dem ungarischen Premier. ... Gestern wurde er von Emmanuel Macron aufgefordert, seine guten Beziehungen zu Wladimir Putin zu erläutern. Es könnte der Ukraine also bald an Waffen und Munition mangeln, um dem Druck Russlands standzuhalten. Einige vermuten darin eine Strategie, die Selenskyj zu Verhandlungen drängen soll – sei es auch aus einer Position der Schwäche heraus. Die westlichen Regierungen wehren sich dagegen, aber es ist seit geraumer Zeit offensichtlich, dass ihre Unterstützung den von ihnen erklärten Interessen nicht gerecht wird.“
Einfach abwarten
Der Streit der Senatoren ist kein Grund zur Sorge, meint hingegen Investmentbanker Serhij Fursa in NV:
„Bedeutet er, dass die USA bereit sind, die Ukraine aufzugeben? Natürlich nicht. Bedeutet er, dass es einen schrecklichen Geheimplan gibt, um die Ukraine durch die Verzögerung der Hilfe zum Frieden zu zwingen? Das ist natürlich Unsinn, denn es gibt objektive Gründe für diese Verzögerung, und nur ein durchgeknallter Verschwörungstheoretiker kann daran glauben, dass die für die US-Gesellschaft so wichtige Debatte um die Grenze zu Mexiko eigens dafür organisiert wurde, die ukrainische Regierung zu beeinflussen. ... Also sollten wir einfach abwarten, bis die Demokraten und Republikaner müde werden, sich gegenseitig zu bekämpfen. Und hoffen, dass sie es noch vor den Feiertagen werden.“
Russlands eingefrorene Gelder anzapfen
Die Ukraine muss zusätzliche Finanzierungsquellen erschließen, schreibt Ukrajinska Prawda:
„Auch wenn das Risiko, dass die Ukraine weder ein neues EU-Hilfspaket noch US-Finanzierung bekommt, verhältnismäßig gering ist, ist schon jetzt klar, dass es schwieriger wird, die Ausgaben zu finanzieren. ... Es ist offensichtlich, dass die Ukraine nach alternativen Quellen suchen muss. Eine davon sind die vom Westen eingefrorenen Vermögen der russischen Zentralbank und der russischen Oligarchen. … Sowohl der Westen als auch die Ukraine müssen ihre Haltung in Bezug auf eingefrorene russische Aktiva ändern, da sich der Krieg hinzieht. Denn die werden keine Finanzierungsquelle für den Wiederaufbau des Landes nach dem Sieg sein können, wenn es diesen Sieg gar nicht geben wird.“
Es hängt nicht nur an den Republikanern
Etwas Selbstkritik am bisherigen westlichen Kurs wäre auch nicht fehl am Platz, wirft Corriere della Sera ein:
„Biden hat zunächst die russische Gefahr unterschätzt; dann hat er die ukrainischen Streitkräfte überschätzt. Er war immer zögerlich, wenn es um moderne Waffenlieferungen ging und hat es nicht geschafft, seine Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass in der Ukraine Amerikas vitales Interesse auf dem Spiel steht. In Europa ist es bequem, die 'Auferstehung des Populismus' (von Trump bis Wilders) anzuführen, um Verantwortlichkeiten zu vertuschen. Deutschland, Italien und andere europäische Nato-Mitglieder hatten mehr Verteidigungsausgaben versprochen. ... Von Frankreich bis Ungarn ist manch einer darauf erpicht, an den Hof des Zaren zurückzukehren.“