Nach Wilders' Wahlsieg: Wohin steuert Europa?
Noch ist nicht klar, wer nach dem Wahlsieg von Rechtspopulist Geert Wilders und seiner PVV die neue niederländische Regierung bilden wird. Von der rechtsliberalen bisherigen Regierungspartei VVD und der Zentrums-Partei NSC erhielt Wilders bereits Absagen. Europas Presse sieht im Erfolg des Rechtspopulisten aber einen allgemeinen Trend und ergründet Ursachen und Folgen.
Es droht die Isolierung
Ein Premier Wilders würde die Niederlande international ins Abseits stellen, warnt der Historiker und Philosoph Luuk van Middelaar in NRC:
„Kein europäischer Regierungschef will gern mit dem bekannten Islamkritiker, Unruhestifter und Koranverbieter Geert W. gesehen werden. ... Auch die Tür des Weißen Hauses bliebe unter Biden verschlossen. Dies wäre ein Bruch im politischen Austausch mit Berlin, Paris und anderen Hauptstädten. Schädlich, denn immer mehr europäische und internationale Entscheidungen fallen auf Chef-Ebene. Ein sorgfältig aufgebautes Vertrauensband mit wichtigen Kollegen wie Merkel und Macron machte aus Mark Rutte einen effektiven Interessenvertreter der Niederlande im Europäischen Rat. ... Wilders würde abseits sitzen.“
Komplexe Ursachen
Das Erstarken der Rechtsextremen darf nicht allein mit dem Thema Migration erklärt werden, warnt Sega:
„Von Österreich und der Slowakei bis Finnland und Schweden ist die populistisch-nationalistische extreme Rechte Teil des politischen Lebens in Europa geworden. ... Es wäre jedoch irreführend, dieses Abdriften nach rechts und die damit einhergehende Anti-Establishment-Stimmung auf eine einzige Ursache zurückzuführen. Die Krise der zu hohen Lebenshaltungskosten, die durch den Krieg in der Ukraine verursachte Energiekrise, die als Folge der Pandemie schwächelnde Wirtschaft und die Probleme der überlasteten öffentlichen Dienstleistungen tragen alle zusammen zur großen Unzufriedenheit der Menschen bei.“
Das Wir nimmt ab, das Ich setzt sich durch
El País analysiert den Trend auf sozialpsychologischer Ebene:
„Der Brexit, Trump, Bolsonaro, Meloni, Milei oder Wilders stehen für ein Schrumpfen des Wir. ... Das nächste Europäische Parlament könnte weniger pro-europäisch sein. ... Das Phänomen ist auch meta-politisch. Das Wir schrumpft, die Gewerkschaften und die Kirche schwächeln. Die Bildschirme machen uns einsamer und hypnotisieren uns mit einem egoistischen Lebensstil.“
Große Verliererin ist die Ukraine
Das ukrainische Volk wird die Veränderungen am stärksten zu spüren bekommen, befürchtet Autor Edward Lucas in Alfa:
„In den Niederlanden wird das Leben weitgehend seinen eigenen Gang gehen, ebenso wie in anderen Ländern, in denen populistische Parteien eine gewisse politische Macht erlangt haben, wie in Dänemark, Schweden und Italien. Der wahre Preis wird in der Ukraine gezahlt werden, die die externe Unterstützung verliert, die sie braucht, um Russland zu besiegen. Die europäische Einheit, die seit dem Beginn der groß angelegten Invasion im Jahr 2022 überraschend stark war, franst nun aus.“
Stück für Stück weiter nach rechts
De-Volkskrant-Kolumnistin Ibtihal Jadib warnt vor einen Gewöhnungseffekt:
„So läuft das eben: Man erschreckt sich, gerät kurz in Panik, aber dann schaut man um sich und stellt erleichtert fest, dass alles noch genauso aussieht. Das Leben kann weiter gehen. Und so rutschen wir jedes Mal ein Stückchen weiter, danach wieder ein Stückchen und dann, was soll's, wieder ein Stück weiter, bis die PVV eines Tages keine konstitutionelle Bedrohung mehr zu sein scheint. Was in Polen und Ungarn geschah mit dem Rechtsstaat, das ist für uns hier nicht relevant.“
Immigration sichert Lebensqualität
Europas Rechtspopulisten haben nur ein gemeinsames wenig schlagkräftiges Argument, meint Telegram:
„Der gemeinsame Nenner der europäischen Rechten kann nur der Hass gegen Migranten sein, alles andere ist fragwürdig und sehr fluid, vom Befürworten des Verlassens der EU bis zum Verhältnis zu Wladimir Putin und dem Ukraine-Krieg. ... Außerdem lebten 2021 in der EU 23,8 Millionen Bürger (5,3 Prozent), die keine Bürger irgendeines EU-Mitgliedslandes waren. In dem Jahr zogen 2,3 Millionen Immigranten in die EU und 1,4 Millionen EU-Bürger zogen aus einem Mitgliedsland in ein anderes. ... Diese Immigration ist der Schlüssel nicht nur für den wirtschaftlichen Fortschritt, sondern auch für den Erhalt des bestehenden Lebensstandards und der Lebensqualität der Bürger der Europäischen Union.“
Billige Versprechen statt Führungsstärke
Belgien sollte die Entwicklungen in den Niederlanden gut im Blick behalten, mahnt Kolumnist Marc Reynebeau in De Standaard:
„Genau wie Populisten nur der Öffentlichkeit gefallen wollen mit billigen Versprechen, so verpassten traditionelle Politiker die Chance, Wähler mit gut durchdachter Führungsstärke für ein politisches Projekt zu begeistern. Sie beließen es dabei, ihr Fähnchen im Wind zu drehen und populistische Slogans nachzuahmen. Sie nehmen den Wähler nicht ernst, der sich sorgt über die soziale Ungleichheit oder über mangelhafte, immer noch bürokratische öffentliche Dienstleistungen in der Pflege, dem Wohnungsmarkt oder öffentlichem Verkehr.“
Es wird Nacht
Für den Tages-Anzeiger wiegt der Sieg der Rechtspopulisten in den Niederlanden besonders schwer:
„Der Zeitgeist weht rechts. ... Wie rechts, erwies sich diese Woche in Holland, wo der Islam-Kritiker und Ukraine-Skeptiker Geert Wilders bei den Parlamentswahlen ein geradezu welterschütterndes Ergebnis einfuhr. ... Welterschütternd, weil Holland nicht Ungarn oder Polen ist, auch nicht Argentinien oder Trump-Amerika, sondern eben Holland – ein westliches, angeblich tolerantes, vor allem EU-europäisches Land. ... Wenn in einem solchen Land die Grusel-Rechte siegt ... wenn das in Holland möglich ist, dann stehen wir vor der Geisterstunde.“
Europäische Werte in Gefahr
In Brüssel gerät Einiges ins Wanken, meint Naftemporiki:
„Der europaweite Rechtsruck wird zweifellos Auswirkungen auf die Europawahlen haben, aus denen ein anderes Parlament hervorgehen wird. Und das Kräfteverhältnis im neuen Parlament wird die Zusammensetzung der Kommission bestimmen. ... Die Frage, die in Brüssel bereits mit Sorge gestellt wird, ist, ob die traditionelle Koexistenz von Christdemokraten und Sozialdemokraten, die auch die Zusammensetzung der Europäischen Kommission bestimmt, einer anderen Partnerschaft weichen wird - zwischen Mitte-Rechts und Rechtsextremismus. Etwas, das womöglich die Untergrabung der Umweltpolitik, der EU-Erweiterung, der Einwanderung und natürlich der europäischen Freiheiten und Werte bedeuten würde.“
Populisten halten sich bisher nicht an der Macht
Der Trend spricht gegen einen nachhaltigen Erfolg von Wilders, betont Le Figaro:
„Trotz der Niederlage Trumps, der Vertreibung Boris Johnsons und der Pleite der PiS in Polen belegt der Sieg Geert Wilders' einmal mehr, dass die Populismuswelle, die sich aus einer Wirtschafts- und Migrations-Doppelkrise speist, nicht abebbt und an der dauerhaften Umgestaltung der politischen Landschaft mitwirkt. ... Allerdings ist der Übergang vom Wahlpopulismus zum Regierungspopulismus weiterhin eine komplexe Gleichung: Mit Ausnahme von Viktor Orbán scheitern die Populisten bislang daran, dauerhaft zu regieren. ... Die Zukunft von Geert Wilders hängt von seiner Fähigkeit ab, eine Regierung und eine Mehrheit zu bilden, die über seine Wählerbasis hinausreicht, diese aber nicht verrät.“
EU bleibt ein Fels in der Brandung
Die Institutionen der EU sind in der Lage, dem Druck von Populisten standzuhalten, meint der Blogger und Publizist Jurij Bohdanow in einem von Espreso übernommenen Telegram-Post:
„Dem europäischen System liegen nicht Persönlichkeiten oder Emotionen zugrunde, sondern Institutionen und Verfahren. Diese sind bisweilen langsam und aufgrund interner Sicherheitsvorkehrungen sehr vorsichtig, dafür aber stabil und bewährt. Also ja, Xi, Putin und andere Populisten mit autoritären Tendenzen (Orbán, Trump, Wilders, Fico, PiS) mögen die Institutionen [der EU] angreifen. Es ist aber nicht sehr wahrscheinlich, dass es ihnen gelingt, diese auch zu brechen. Obwohl sie dabei alle nervös machen werden. Eigentlich tun sie das bereits.“
Reform statt Exit
Viele EU-skeptische oder gar -feindliche Parteien wie die PVV wollen die EU gar nicht mehr verlassen, stellt Telegram.hr fest:
„Auch die Rechten wünschen sich eine Reform der Europäischen Union - ein 'neues Europa' -, aber nicht unbedingt solch eines wie es unter den Regierungen der Mitgliedsstaaten diskutiert wird. Man möchte einen loseren Staatenbund, ein Primat des nationalen Rechts vor dem der EU, völlige Kontrolle über Migration und Asyl, eine Rückkehr der Autorität aus Brüssel zu den Nationalstaaten. ... Es handelt sich also nicht mehr um ein Verlassen der EU, sondern um eine Transformation der Union in eine Organisation, die auf völlig anderen Prinzipien aufbaut als bisher. Wilders könnte dabei ein wichtiger Verbündeter sein.“