EU-Wahl: Es geht los

Mit Öffnung der Wahllokale in den Niederlanden hat am heutigen Donnerstag die Wahl zum Europäischen Parlament begonnen. In Tschechien und Irland wird am Freitag gewählt. Italien, Lettland, Slowakei und Malta folgen am Samstag und die übrigen Länder am Sonntag, dem großen Wahltag. Wie unterschiedlich die Erwartungen an die EU-Abgeordneten und die Wahl selbst sind, zeigt ein Blick in die Kommentarspalten der europäischen Presse.

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Corriere della Sera (IT) /

Das kleine bisschen Mitspracherecht nutzen

Mit ihrer Wahl können die Bürger Einfluss auf die Politik nehmen, wenn auch wenig, mahnt der Physiker Carlo Rovelli in Corriere della Sera:

„Ich glaube, dass wir in einer Situation eskalierender globaler Konflikte, gegenseitiger Dämonisierung, explodierender Militärausgaben, der Gefahr einer drohenden nuklearen Katastrophe, einer Klimakrise und einer durch beispiellose wirtschaftliche Ungleichheiten angeheizten Instabilität kühl denkende politische Führer brauchen. Solche, die erkennen, dass die gemeinsamen Interessen der Menschheit Vorrang vor parteipolitischen Interessen haben müssen, wenn wir eine Katastrophe vermeiden wollen. Der einzelne Bürger hat bei wichtigen internationalen politischen Entscheidungen wenig Mitspracherecht. Abgesehen von seinem Wahlrecht.“

Radio Kommersant FM (RU) /

Russland hat nichts zu gewinnen

Radio Kommersant FM erwartet nicht, dass Moskau durch die Wahlen bedeutende Veränderungen in der EU-Politik erwarten kann:

„[Das EU-Parlament] wird weiterhin von Kräften dominiert sein, die der russischen Führung und ihrer Politik äußerst skeptisch gegenüberstehen. Die Balance wird sich leicht verschieben, aber nicht grundlegend. Resolutionen zugunsten neuer Sanktionen und Druckmaßnahmen werden weiterhin deutliche Mehrheiten finden. Und die neue Zusammensetzung der Europäischen Kommission wird sich nicht wesentlich vom jetzigen Team unterscheiden ... Europa (wenn man auf alle 27 EU-Mitgliedstaaten schaut und nicht auf einzelne, mögliche 'Anomalien',) wird von den uns schon schmerzlich vertrauten politischen Kräften dominiert sein.“

Válasz Online (HU) /

Ende der Linken in Ungarn?

Die ungarische Linke muss sich angesichts der Wahlumfragen warm anziehen, meint Válasz Online:

„In Ungarn könnte passieren, was 2015 in Polen geschah, wo die Linke eine Zeit lang verschwunden war. ... Denn in jenem Jahr haben es in Warschau nur verschiedene Schattierungen der Rechten ins Parlament geschafft. ... Wenn die Tisza-Partei [von Péter Magyar] wirklich dreimal so stark abschneidet wie die Allianz aller linken Parteien, würde diese von der [sozialliberalen] Demokratischen Koalition dominierte Liste einen verheerenden Schlag erleiden. Und diejenigen, welche die Sozialdemokratie als Vision für Ungarn sehen, müssten wohl wieder bei Null anfangen.“

El Periódico de España (ES) /

Spanisches Recht hinkt EU-Recht hinterher

El Periódico de España findet, Spanien könnte noch europäischer werden:

„Weitreichende Themen, die Millionen von Bürgern betreffen, wie Verbraucherschutz, Datenschutzbestimmungen oder der Kampf gegen den Klimawandel sind Realitäten, die uns derzeit beschäftigen - wegen Entscheidungen der europäischen Institutionen. Es gibt Funktionsstörungen, die eine kohärente Entwicklung zwischen dem Rechtssystem der Europäischen Union und dem internen Rechtssystem der einzelnen Staaten verhindern, besonders in Spanien. ... Zu Beginn des Jahres 2022 hatte Spanien 107 offene Fälle wegen diverser Verstöße. In keinem anderen Land waren es so viele. Dies führt oft zu hohen Geldstrafen und zahlreichen Urteilen des EU-Gerichtshofs, für die sich unsere Politiker schämen sollten.“

Die Presse (AT) /

Für alle was dabei

Die Tageszeitung Die Presse lobt die Auswahl für Österreichs Wählerschaft:

„Migrationskritiker werden ebenso wie Klimaschützer bedient. Von einer stark geschrumpften 'EU light' bis hin zu den 'Vereinigten Staaten von Europa' kursieren zig Vorschläge, wohin sich die Europäische Union entwickeln soll. ... Alles in allem bieten die Parteien ein breites Angebot, aus dem der Wähler aussuchen kann. Vielleicht kann er so auch darüber hinwegsehen, dass ihn der Spitzenkandidat der Partei nicht gerade umhaut. Mit all den derzeit stattfindenden geopolitischen Verwerfungen könnte die heurige EU-Wahl tatsächlich einmal die Zuschreibung 'Schicksalswahl' verdienen. Wie Europa und Österreich auf die Herausforderungen reagieren sollen, kann man mitbestimmen.“

Večernji list (HR) /

Wichtigste Nebensache der Welt

Die Europawahl ist viel bedeutsamer, als viele meinen, erklärt Večernji list:

„Am Sonntag finden in unserem Land die wichtigsten nebensächlichen Wahlen der Welt statt. ... Nebensächlich, da sie so behandelt werden, auch in vielen anderen EU-Mitgliedsstaaten, als irgendwie minderwertig im Vergleich zu den nationalen Wahlen, und das in Kroatien schon seit 2013. Die wichtigsten, da das Europaparlament weitreichende Gesetze verabschiedet, die alle betreffen, die großen und kleinen Staaten gleichermaßen, die urbanen Megastädte und kleinen ruralen Gemeinden, die größten Konzerne und kleinsten Startups und Werkstätten. Das Europaparlament schafft Vorschriften, die Dinge auf globaler und lokaler Ebene und überall dazwischen verändern.“

Phileleftheros (CY) /

Das Parlament braucht jetzt die Besten

Der Kolumnist Christos Michailidis kritisiert in Phileleftheros das niedrige Niveau der Kandidaten in Zypern und Griechenland:

„Ohne Sachkenntnis, ohne Vision, ohne Kompass. Früher schickten wir unsere Besten nach Brüssel. Das Traumteam. ... Die Schuld kann nur zum Teil den Bürgern zugeschrieben werden. Die übliche Tour aller Politiker im ganzen Land berührt niemanden – abgesehen von einer Fotogelegenheit. Versuchen wir uns daran zu erinnern, dass Europa von zwei Kriegen erschüttert wird. Ihre Wirkung berührt uns alle. Deshalb muss die EU gestärkt werden, mit Menschen, die über Bildung, Vision und die Kraft verfügen, die Werte der EU zu verteidigen.“

Sme (SK) /

Keine EU-Zerstörer wählen

Sme schreibt:

„Dass der EU mehrere Schritte der slowakischen Regierung Sorgen bereiten, ändert sich auch nach dem Anschlag auf Premier Robert Fico nicht. Etwa die Änderung des Strafgesetzbuchs oder die Angriffe auf die freie Presse. Die EU wurde auch geschaffen, damit hasserfüllte Ideologien und der Einfluss von Autokratien nicht die Demokratie bedrohen und bürgerliche Freiheiten nicht nur selektiv für Wähler einer Partei sind. Damit die von den Mitgliedern der Union durch ihre Steuern gesammelten Ressourcen nicht an lokale Oligarchen verteilt werden. ... Wer heute eine Union will, die eher Russland ähnelt, wird die EU schrittweise auflösen. Solche Leute sollten wir nicht ins Europäische Parlament schicken.“

Neatkarīgā (LV) /

In Lettland gibt es nur ein Thema

Neatkarīgā analysiert die Stimmung im Land:

„In Lettland gibt es derzeit keine Diskussionen darüber, welches Thema für uns am wichtigsten ist. Es ist jedem klar: Der Sicherheitsaspekt und die Einstellung gegenüber dem russisch-ukrainischen Krieg. Einzelne Aktivisten können ihre Empörung darüber zum Ausdruck bringen, dass unsere Kandidaten den Klima-Fragen zu wenig Aufmerksamkeit schenken oder dem 'grünen Kurs', Transgender-Rechten und anderen 'modischen' Dingen skeptisch gegenüberstehen. ... In einer Situation, in der der Schatten einer existenziellen Bedrohung in Form des Putin-Regimes über Europa schwebt, gibt es ernstere Dinge. Folglich ist diese Wahl in unserem Land zu einer Ein-Thema-Wahl geworden.“

eldiario.es (ES) /

Warum ich als Spanier an Europa glaube

Chefredakteur Ignacio Escolar outet sich in eldiario.es als überzeugter Europäer:

„Spanien ist heute, trotz aller Probleme, eines der wohlhabendsten Länder der Welt und das verdanken wir zum Großteil der EU. Ein unvollkommenes Europa, das immer wieder enttäuscht, das aber auch aus seinen Fehlern lernt. ... Man muss nur die fahrlässige und schädliche Reaktion auf die Eurokrise und den Zusammenbruch des Finanzsystems damit vergleichen, wie man die Überwindung der Pandemie gemanagt hat. Dieses Europa ist heute vom Aufstieg der extremen Rechten bedroht, die die Grundrechte der EU in Frage stellen: Würde, Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit. ... Das ist das Europa, an das ich als Spanier glaube.“

Times of Malta (MT) /

Heimatnähe nicht verlieren

Die neu gewählten EU-Parlamentarier sollten staatliche und lokale Interessen im Auge behalten, mahnt Kolumnist Norman Aquilina in Times of Malta:

„Abgeordnete werden gewählt, um die Interessen der EU-Bürger im Einklang mit der jeweiligen politischen Gruppierung zu vertreten, der sie angehören. Doch das bedeutet nicht zwangsläufig, dass staatliche Zugehörigkeiten im Europäischen Parlament keine Rolle spielen. Die Wähler haben bei ihrer Stimmabgabe meist lokale politische Erwägungen im Fokus. ... Wir brauchen Abgeordnete, die nicht nur aktiv Maltas Interessen auf europäischer Ebene vertreten, sondern auch Heimatnähe bewahren. Dies erfordert ein weitergehendes und kontinuierliches Engagement mit lokalen Organisationen und der Öffentlichkeit.“

Novinky.cz (CZ) /

Wahlen wurden hart erkämpft, also bitte nutzen!

In Tschechien beschwert man sich ständig über Brüssel - aber die Europawahlen locken kaum jemanden hinter dem Ofen hervor, wundert sich Novinky.cz:

„Wenn sich jemand am Green Deal stört, an der Art und Weise, wie der Migrationspakt verabschiedet wurde, oder an der EU-Agrarpolitik und der Art und Weise der Verteilung von Subventionen an die einzelnen Mitgliedsländer, sollte er zur Wahl gehen. ... Auch weil das Europaparlament das einzige direkt gewählte Organ der EU ist. Jahrhundertelang hatten die Menschen keine Wahlmöglichkeit. Wir haben lange darum gekämpft. Nun sollten wir die Wahlen auch nutzen. Damit niemand denkt, Wahlen seien ein nutzloser und teurer Luxus und Demokratie könne schließlich auch durch Autokratie ersetzt werden.“

Observator Cultural (RO) /

Die Großen geben nicht mehr alleine den Ton an

Auf den Einfluss der größten Länder innerhalb der EU schaut Observator Cultural:

„Seit 1958 tanzen Deutschland und Frankreich ein politisches Pas de deux, das mit dem Beitritt Großbritanniens zur Union an Kontur verlor und sich nach dem Brexit in einen Tango verwandelte. Jetzt jedoch können die politischen Eliten aus Frankreich und Deutschland das europäische Spiel nicht mehr kontrollieren. Die Renew-Europe-Fraktion von Macrons Partei ist im Absturz begriffen, wie auch die deutschen Sozialdemokraten. ... Damit werden die kleinen Mächte (in diesem Fall Italien) zum Gamechanger für die gesamte europäische Konstruktion. Die neue Anführerin Europas ist zweifellos Giorgia Meloni, sie wird die gesamte europäische Architektur für die nächsten fünf Jahre prägen und verändern.“