EZB: Startschuss zur Zinswende?
Zum ersten Mal seit 2019 hat die Europäische Zentralbank (EZB) den Leitzins gesenkt. Mit der Herabsetzung um 0,25 Prozentpunkte auf 4,25 Prozent werden Kredite günstiger, während Sparer in der Regel weniger Zinsen erhalten. Seit 2022 hatte die EZB zehn Mal den Leitzins erhöht. Die Bank begründete die Senkung mit einer abgeschwächten Inflation und nachlassendem Preisdruck. Kommentatoren sind gespalten in ihrem Urteil.
Eine Hürde weniger
Zeit Online begrüßt den Schritt:
„Die jetzt eingeleitete Zinswende erleichtert ein kleines bisschen das Bearbeiten der Zukunftsherausforderungen. Denn egal, ob es um den Kampf gegen den Klimawandel geht oder die Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit: Es werden mehr Investitionen benötigt, sowohl private als auch staatliche. ... Keine Frage: Geld allein löst nicht alle Probleme, und billiges Geld erst recht nicht. Aber der Zins ist einer der zentralen Stellgrößen einer Volkswirtschaft und für die Konjunktur von größerer Bedeutung als so manche Regulierung. Mit Aussicht auf ein niedrigeres Zinsniveau ist eine Hürde für den Umbau der Wirtschaft beseitigt. Es bleiben noch genug andere übrig.“
Neue Perspektiven
Libération unterscheidet zwischen kurz- und langfristigen Effekten:
„Diese Entscheidung wird sich ohnehin erst frühestens im kommenden Jahr auf die europäische Wirtschaft auswirken, denn es dauert immer einige Monate, bis die Geldpolitik weitergegeben wird. Der erwartete Kurswechsel hat sich aber bereits auf die Haltung der Geschäftsbanken ausgewirkt, die sich bei der Festlegung ihrer Zinssätze für Immobilienkredite an den langfristigen Zinsen orientieren. Deren leichter Rückgang in den letzten Monaten hat nach fast zwei Jahren freiem Fall zu einem Anstieg neuer Immobilienkredite geführt. So hat die Banque de France am Donnerstag festgestellt, dass das Kreditvolumen im April auf 8,9 Milliarden Euro angestiegen ist – von 6,9 Milliarden im März.“
Auf Schlingerkurs
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hält die Zinssenkung für verfrüht:
„[E]rstens ist die Inflation noch nicht da, wo sie sein soll, und zweitens gab es schon im Mai wieder den ersten Rückschlag, legte sie doch von 2,4 auf 2,6 Prozent zu. Sind die Skeptiker Erbsenzähler? Nein, sie nehmen es nur genau. Es ist inzwischen selbst in der EZB angekommen, dass die Inflationsgefahren aus der Corona-Zeit und dem Ukrainekrieg unterschätzt wurden. Die Kriege, die insgesamt sehr unsichere geopolitische Lage, der Druck aus den Lieferketten, steigende Löhne, all das sorgt für weitere und neue Inflationsgefahren. Mit dem kleinen Zinsschritt bringt sich die EZB selbst auf einen Schlingerkurs.“
Krise überwunden
Die Zinssenkung bezeugt die Stärke der EU, meint La Stampa:
„Europa funktioniert. Die gestrige Entscheidung der EZB zeigt, dass die durch Russland verursachte Inflationskrise, die für lange Monate unsere Kaufkraft reduzierte, überwunden ist. Wir schaffen es, aus ihr herauszukommen, ohne einen zu hohen Preis zu zahlen und vor allem, ohne die internen Ungleichgewichte in der Eurozone wieder zu vergrößern. Anders als in der Schuldenkrise zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts ist es in unserer Währungsunion nicht zu Spannungen zwischen starken und schwachen Ländern gekommen. Der Euro ist mit seinen derzeit 20 Mitgliedern sehr solide.“