Wer könnte französischer Premier werden?

Noch immer ist Frankreich auf der Suche nach einer neuen Regierung. Präsident Macron stellte klar, dass er für den Premier-Posten trotz dessen Wahlsiegs niemanden aus dem Linksbündnis NFP benennen will. Auch Vorschläge aus dem rechten Lager wies er zurück. Presseberichten zufolge ist nun der frühere EU-Kommissar Michel Barnier im Gespräch. Europas Presse reflektiert die vertrackte Lage.

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L'Opinion (FR) /

Die Farce steigert sich zur Tragödie

L’Opinion ist entsetzt:

„Über diese unverständliche Parlamentsauflösung und die beunruhigende Unfähigkeit des Präsidenten, einen neuen Premier zu ernennen, glaubten wir, alles gesagt zu haben: Schattentheater, Boulevardstück, Tragikomödie. … Doch damit nicht genug. Die Farce geht weiter, das Drama zieht ein. … Um seine Bilanz zu schützen und seine Macht zu sichern, versucht der Zauberlehrling des Elysée-Palasts in organisierter Undurchschaubarkeit ein Kohabitationsszenario zu schreiben, das nichts mit den Prioritäten eines ausgebluteten Landes zu tun hat. Schlimmer noch: Er nährt eine Bummelei, welche die bevorstehenden Desaster bei Haushalt und Sicherheit noch verschärfen wird.“

Les Echos (FR) /

Verantwortungslosigkeit von vielen Seiten

Nicht nur der Präsident trägt Schuld, urteilt Les Echos:

„Der zweite Hauptverantwortliche dieser Blockadesituation ist die 'Ablehnungsfront', und zwar das Linksbündnis Nouveau Front populaire sowie der Rassemblement National. Es zeugt von echtem Leichtsinn, Misstrauensvoten derart zu banalisieren, indem sie a priori angekündigt werden. ... Das große politische Paradox besteht darin, dass der Großteil der Wähler bei der Stichwahl im Juli gegen die Partei von Marine Le Pen und Jordan Bardella das errichtet hat, was man gemeinhin eine republikanische Brandmauer nennt, damit sie nicht das Amt des Premiers erhält, sie aber schließlich als Königsmacher dasteht.“

Le Figaro (FR) /

Polen hat gezeigt, wie es geht

Frankreich bräuchte einen Politiker wie Polens Premier Donald Tusk, findet Adam Hsakou vom US-amerikanischen Thinktank German Marshall Fund in Le Figaro:

„Diesem 'Zoon politikon' ist es gelungen, in Schlüsselmomenten hervorzustechen. 2023 einte er ein äußerst bunt gewürfeltes Lager um Reformen herum, die über starre Partikularinteressen politischer Apparate hinausgehen. ... Frankreich muss nun seinen landeseigenen Donald Tusk hervorbringen. Egal mit welcher Laufbahn oder aus welchem Lager, muss er dazu im Stande sein, eine vielfältige Koalition anzuführen, um die vorrangigen Baustellen des Landes in Sachen Kaufkraft, Beschäftigung, Gesundheit, Sicherheit, Zuwanderung und Umweltschutz anzupacken.“

Ouest-France (FR) /

Chaos im Parlament besser als auf der Straße

Ouest-France drängt:

„Der Vorwand der Olympischen Spiele, der Wille, eine institutionelle Krise zu vermeiden, während die Welt auf Frankreich blickte, und die Trägheit des Sommers machten diese komische [regierungslose Zeit] möglich. Doch dieser Moment ist vorbei. Höchste Zeit, die Sackgasse zu verlassen und einen Premier nach Matignon zu berufen. Selbst wenn er nur ein paar Wochen bleibt. ... Vielleicht müssen mehrere Regierungen zusammenbrechen, damit jede Seite nach echten Kompromissen sucht – aber es muss sich etwas ändern. Und sei es nur, um zu verhindern, dass sich in unserem Land die Vorstellung festsetzt, dass es sinnlos sei, wählen zu gehen. Und weil ein chaotischer Auftakt im Parlament besser ist als ein chaotischer Auftakt auf der Straße.“

Corriere della Sera (IT) /

Im Sumpf bis zu Neuwahlen ausharren

Eine völlig festgefahrene Situation sieht Corriere della Sera:

„Das offensichtliche Ziel des Staatschefs, der im französischen System kein Schiedsrichter, sondern ein Mitspieler ist, besteht darin, die Linke zu spalten und die extreme La France insoumise von dieser neuen Konsultationsrunde auszuschließen. Aber die Verbündeten beißen nicht an. ... Wenn es vorher wie eine Sackgasse aussah, sieht es jetzt wie ein Sumpf aus, bei dem es unklar ist, wie Macron die Franzosen da herausziehen will. Inzwischen hat man sich zunehmend mit der Idee einer provisorischen Regierung abgefunden, um zu Neuwahlen zu kommen.“

Der Tagesspiegel (DE) /

Der Präsident versteht seine Rolle falsch

Macron hat Parteien schon immer verachtet, erinnert der Tagesspiegel:

„Das bringt er auch jetzt wieder zum Ausdruck, wenn er überlegt, eine Person aus dem sozialdemokratischen Spektrum zum Premier zu machen – den das Linkenbündnis wiederum ablehnt. Am liebsten wäre Macron vermutlich ein Technokrat, der gar keine Partei hinter sich hat und keine alternative Politik anstrebt. Er vergisst dabei: Es ist nicht der Präsident, der eine Mehrheit im Parlament beschaffen muss. Sondern der Premierminister. Frankreich hat mittlerweile ein echtes institutionelles Problem.“

Financial Times (GB) /

Kompromissunfähig

Dem französischen politischen System fehlt eine Kultur des Entgegenkommens, klagt Financial Times:

„Es gibt keine Tradition der Koalitionsbildung oder Ausarbeitung programmatischer Vereinbarungen, wie das in vielen anderen europäischen Ländern der Fall ist. Keine der großen Parteien hat im Sommer ernsthaft versucht, mit den anderen einen gemeinsamen politischen Standpunkt zu finden. Die Linke nahm fälschlicherweise an, sie habe die Wahl gewonnen und das Recht, die Macht gegen die Mehrheit auszuüben. Die Mitte-Rechts-Fraktion veröffentlichte eine Liste unantastbarer politischer Forderungen. Macrons Zentristen gaben sich am offensten – solange sichergestellt ist, dass ihr politisches Erbe nicht angerührt wird.“

Jutarnji list (HR) /

Mélenchon für viele untragbar

Jutarnji list analysiert die Lage von La France insoumise (LFI):

„Sie ist die Partei, die innerhalb des linken Bündnisses die meisten Stimmen bekommen hat, weshalb es logisch wäre, dass sie den nächsten französischen Premier stellt. Doch selbst [Parteichef] Mélenchon ist klar, dass dies eine unmögliche Mission ist, da seine Ansichten extrem links sind und er für die meisten Franzosen der am meisten verhasste Politiker ist. Viele halten ihn für einen Extremisten und Antisemiten. Gleichzeitig ist er für die extremen Linken der unantastbare Anführer. Auch andere Mitglieder der Linken sind sich dessen bewusst, dass seine Kandidatur nicht angenommen würde. Man dachte jedoch, dass Castets passen könnte.“