Wettbewerbsfähigkeit: Wie kann die EU aufholen?
Ex-EZB-Chef Mario Draghi hat am Montag das Strategiepapier abgeliefert, das EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen vor gut einem Jahr in Auftrag gegeben hatte. Damit sich die EU-Wirtschaft im Wettbewerb mit USA und China behaupten kann, brauche es mehr Innovation, weniger bürokratische Hürden sowie massive private und staatliche Investitionen. Europas Presse analysiert die Vorschläge und ihre Umsetzbarkeit.
Europa als Produktionsstandort bewahren
In IQ lobt Vidmantas Janulevičius, Präsident des litauischen Industriellenverbands, den Draghi-Plan - auch wenn er spät kommt:
„Viele der beschriebenen Probleme haben wir bereits vor 10 bis 15 Jahren erkannt. Damals wäre noch Zeit gewesen, einige Folgen zu verhindern, doch kurzfristige Gewinne hatten stets Vorrang vor langfristigen Investitionen in eine nachhaltige Zukunft. ... Draghis Bericht betont, dass wir nicht nur Technologien entwickeln, sondern auch sicherstellen müssen, dass sie in Europa produziert werden. Wenn wir das nicht tun, wird unsere Wettbewerbsfähigkeit weiter schrumpfen. Wir müssen Produktion und Technologie nach Europa zurückholen, denn der Wettbewerbsvorteil schwindet gegenüber den USA und China.“
Mehr Freiheit statt vieler Strategien
Ein neuer großer Plan ist das letzte, was Europa braucht, kontert Svenska Dagbladet:
„Der italienische Ökonom und ehemalige EZB-Chef Mario Draghi hat unbestreitbar Recht, dass die Wachstumsfähigkeit des europäischen Kontinents eine Frage des Schicksals ist. Allerdings irrt er darin, dass es an einer 'Industriestrategie' und staatlichen oder überstaatlichen Investitionen in politisch bestimmte Sektoren fehle. Wenn Strategien die Volkswirtschaften ankurbeln würden, wäre Europa bereits weltweit führend. ... Wachstum kann nicht durch Pläne, Richtlinien und schöne Absichten vorangetrieben werden. ... Andererseits können Volkswirtschaften bei größerer Freiheit in der Regel recht gut wachsen. “
Das könnte ein echter Relaunch der EU werden
El País ist von der Größe des Plans beeindruckt:
„Die Minister Deutschlands und der Niederlande haben binnen 24 Stunden Einwände erhoben, vor allem gegen die Vergemeinschaftung der Schulden. ... Vielleicht sollte Ursula von der Leyens zweite Kommission diese Warnung als Ansporn nehmen. Vielleicht gibt es zu [Draghis] 'whatever it takes' von 2012 eine Entsprechung: Ein gewaltiger Investitionsplan, der mehr als nur Zahlen bedeutet: mit der (unwahrscheinlichen) Erlaubnis Berlins wäre es eine Neugründung der EU.“
Notwendiger Tritt in den Hintern
Sydsvenskan erklärt, warum die EU dringend handeln muss:
„Die Herausforderung ist enorm. Seit dem Jahr 2000 waren die Reallohnsteigerungen in den USA doppelt so hoch wie in der EU. Der BIP-Unterschied zwischen den USA und der EU ist von 15 Prozent im Jahr 2002 auf 30 Prozent im Jahr 2023 gestiegen, was vor allem auf die niedrige Produktivität in Europa zurückzuführen ist. Nur vier der weltweit führenden Technologieunternehmen stammen aus Europa. ... Nein, der Bericht vom Montag ist keine schnelle Lösung für eine hinterherhinkende EU. Aber zumindest kann es ein Tritt in den Hintern sein.“
To-do-Liste für die neue Kommission
Die Financial Times drängt auf zügige Umsetzung sinnvoller Vorschläge:
„Dazu gehören eine Zusammenführung der Kapitalmärkte durch die Zentralisierung der Marktaufsicht, die Schaffung neuer gemeinsamer Finanzierungstöpfe und die Vereinheitlichung und Vereinfachung von Industrie-, Wettbewerbs- und Handelsvorschriften. Ein breiterer Vorstoß für eine engere Zusammenarbeit in den Bereichen Energie, Innovation und nationale Sicherheit ist ebenfalls zu begrüßen. Draghis Empfehlungen geben der neu gewählten Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen - der Auftraggeberin des Berichts - einen wertvollen Handlungsrahmen für ihre neue Amtszeit.“
Zusammenhalten, um souverän zu bleiben
Draghi hat mit seinem Appell völlig recht, mahnt der Ökonom und ehemalige Senator Tommaso Nannicini in La Stampa:
„Die einzige Möglichkeit, die Kontrolle zurückzuerlangen, besteht darin, sich nicht innerhalb der nationalen Grenzen einzuschließen und Sklaven von Entscheidungen zu werden, die anderswo getroffen werden, von Washington bis Peking, sondern Europas Eigenständigkeit auf bestimmten strategischen Achsen aufzubauen. Dies ist die Konsequenz aus dem Draghi-Bericht. Die Faktoren, die das europäische Wachstum begünstigt haben, von der Ausweitung des internationalen Handels bis hin zu einer durch die Pax Americana garantierten geopolitischen Stabilität, sind hinweggeschwemmt worden. Das Wachstumsspiel wird anderswo gespielt.“
Bürokratieabbau ist oberste Priorität
Endlich wurde ein wichtiges Problem beim Namen genannt, freut sich Les Echos:
„Mario Draghi, der 2012 mit seinem berühmten 'Whatever it takes' zur Rettung des Euro bekannt wurde, greift heute auf dasselbe Mittel zurück: ein neues Konjunkturprogramm. Allerdings hat der Europäische Rechnungshof kürzlich bekannt gegeben, dass die EU-Länder bis Ende 2023 weniger als ein Drittel der im vorherigen Programm vorgesehenen Mittel genutzt haben. ... Der Bericht stellt zudem fest, dass Innovation hier 'in jeder Phase durch inkohärente und restriktive Vorschriften behindert wird'. Man könnte es nicht treffender formulieren: Entbürokratisierung hat Priorität.“
Draghi trifft wunde Punkte
The Irish Times prognostiziert Widerstand aus verschiedenen Hauptstädten:
„Um Investitionen anzukurbeln, fordert Draghi die gemeinsame Finanzierung eines neuen EU-Schuldeninstruments, ein Vorschlag, der in einigen europäischen Staaten sicher für Unmut sorgen wird. Ebenso plädiert er für eine flexiblere EU, was nicht nur einen starken Regulierungsabbau, sondern auch das Ende des nationalen Vetos bei neuen Rechtsvorschriften in verschiedenen Bereichen bedeutet. Dies wird in Ländern wie Irland, das seit langem eine unabhängige Steuerpolitik schützt, ein sensibles Thema sein.“
Zu ambitioniert für Europas Verdrängungskünstler
Lidové noviny zeigt sich skeptisch:
„Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Plan verwirklicht wird, ist sehr gering. Und das, obwohl die Chefin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, erklärt hat, dass sie Draghis Vorschläge als Vorlage für ihr Kommissarenteam nutzen werde. Man kann vielmehr darauf wetten, dass nur wenige von Draghis Vorschlägen umgesetzt werden und der europäische Niedergang weiter anhält. Bis den Europäern klar wird, dass sie etwas tun müssen, wird die Illusion bestehen bleiben, dass wir den europäischen Konsens durch Aufschieben bewahren können, wie Draghi es sehr treffend beschrieben hat. Das ist ein bequemer Weg in die Hölle, den wir gerne beschreiten.“