Putin ändert Nukleardoktrin: Bluff oder letzte Warnung?
Künftig soll laut Moskaus Nukleardoktrin auch eine Aggression durch einen Staat, der keine Atomwaffen besitzt, aber mit Unterstützung eines atomar bewaffneten Staates erfolgt, als Angriff einer Atommacht auf Russland gewertet werden. Die Medien sind sich einig, dass der Kreml damit vorrangig die westliche Militärhilfe für die Ukraine zu zügeln versucht - aber die Folgen des Beschlusses taxieren sie durchaus unterschiedlich.
Kein Grund zur Panik
Man sollte sich von Putin nicht schrecken lassen, beschwichtigt The Spectator:
„Nukleardoktrinen sind keine unumstößlichen Gesetze, die festlegen, wann ein Staat zum Einsatz von Atomwaffen greift. Die Entscheidung, den sprichwörtlichen roten Knopf zu drücken oder nicht, liegt letztlich immer beim Staatsoberhaupt. ... Zweitens, und damit zusammenhängend, sind Nukleardoktrinen absichtlich vage gehalten. Mit anderen Worten: Es ist wichtig, dass die Gegner im Unklaren darüber gelassen werden, wann die Schwelle für eine nukleare Reaktion überschritten werden könnte. ... Bei der angekündigten Änderung der Doktrin geht es daher weniger um eine grundlegende Änderung der russischen Nuklearpolitik als vielmehr um ein Signal an das westliche Publikum.“
Eine Diktatur braucht keine Doktrin
Politologe Wladimir Pastuchow erkennt in einem von Echo übernommenen Telegram-Post einen Ausdruck von Nervosität in Moskau:
„Doktrinen sind wichtig, wenn man einen Rechtsstaat mit Gewaltenteilung und all dem anderen demokratischen Brimborium hat. Aber in mafiösen, totalitären Staaten mordet man schon lange ohne jegliche Doktrin. Nüchtern betrachtet bedeutet die Änderung der Doktrin für Russland also praktisch nichts, aber aus psychologischer Sicht zeigt sie die wachsende Nervosität des Kremls: 'He, ihr da, seid ihr völlig taub? Wir haben die Bombe, die B-o-m-b-e!' Heißt das, der Kreml wird keine Atomwaffen einsetzen? Keineswegs, in einem Zustand der Hysterie sind die Chancen dafür deutlich höher.“
Drohkulisse bringt mehr als Bombenzündung
De Standaard wägt ab, ob Putin tatsächlich Atomwaffen einsetzen könnte:
„Experten sagen, dass taktische Kernwaffen aus militärischer Perspektive in dieser Phase des Krieges wenig sinnvoll sind. Dafür ist die Front viel zu ausgedehnt. Wenn sie auf eine Stadt wie Charkiw oder Kyjiw fallen würden, würden sie natürlich für viele Opfer sorgen. Aber die Folgen kosten Putin wahrscheinlich den relativen kleinen Vorteil, den er in diesem Krieg jetzt hat. Diese Berechnung wird er zweifellos auch gemacht haben. Mit den Waffen zu drohen bringt ihm vorläufig mehr.“
Zucker für Trump, bittere Pille für Biden
Neatkarīgā beleuchtet die Motive des Kreml-Chefs:
„Putin versucht, sich bei Trump einzuschmeicheln, indem er der Welt mit einer nuklearen Katastrophe droht, falls der Westen die Ukraine weiterhin unterstützt oder, noch schlimmer, seine Militärhilfe erhöht. ... Und, was der Hauptgrund sein mag: Vom 10. bis 12. Oktober ist Bidens Besuch in Berlin geplant ... Putins demonstrative Änderung der Nukleardoktrin soll offensichtlich verhindern, dass die westlichen Leader 'zu eifrig' werden und erwägen, der Ukraine noch ernsthaftere militärische Hilfe zu leisten. ... Zugegebenermaßen hat diese Putin-Methode bisher relativ gut funktioniert. Allerdings hat sie einen großen Mangel: Ihre Wirksamkeit nimmt mit jedem weiteren Mal ab.“
Drohung könnte funktionieren
Angesichts der bevorstehenden US-Wahl könnte Moskaus Kalkül aufgehen, analysiert NV:
„Einerseits ist es erfreulich, dass Putin gezwungen ist, aufs Ganze zu gehen. Schließlich war das noch nie ein Zeichen von Stärke und Zuversicht. Das bedeutet, dass die zusätzlichen Möglichkeiten der ukrainischen Streitkräfte, Ziele in Russland zu treffen – und auf dem Spiel steht die Erlaubnis, Ziele in einer Entfernung von 300 Kilometern anzugreifen – Putin und Co. in große Angst versetzen. Und er tut alles in seinen Kräften Stehende, um das zu verhindern. Andererseits wird dieser Bluff höchstwahrscheinlich funktionieren. Einen Monat vor der Wahl wird die US-Regierung es wohl kaum wagen, auch nur die Befürchtung einer Nuklearkrise zu riskieren.“
Menetekel des Atomkriegs
Für Yeni Mesaj steht die geänderte Nukleardoktrin für eine gefährliche Entwicklung:
„Kommt es zum Worst-Case-Szenario? Putin hat es vor Jahren während einer anderen Krise so skizziert: 'Wenn in einem Theaterstück ein Gewehr an der Wand hängt, wird es irgendwann genutzt.' Genauso gilt: Wenn die westlichen Länder ihre Politik des Anheizens des immer erbitterteren Krieges in der Ukraine fortsetzen, berühren sie mit ihren Händen den Abzug ihrer Atomwaffen. ... Die beiden vorangegangenen Weltkriege sind in einem viel weniger angespannten Umfeld ausgebrochen als heute. Dieser neue Krieg vor unserer Haustür, dessen Funke in der Ukraine entzündet wurde, könnte sowohl der dritte Weltkrieg als auch der erste Atomkrieg werden.“