Was bedeuten die US-Wahlen für Europa?

Am heutigen Dienstag entscheiden die Bürgerinnen und Bürger der USA, ob sie Kamala Harris oder Donald Trump an der Spitze ihres Landes haben wollen. Bei den gleichzeitig stattfindenden Kongresswahlen werden zudem sämtliche Sitze des Abgeordnetenhauses sowie rund ein Drittel des Senats neu besetzt. Dass dabei auch für Europa viel auf dem Spiel steht, zeigt ein Blick in die Kommentarspalten des Kontinents.

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De Volkskrant (NL) /

Auch schlechte Vorbilder wirken ansteckend

De Volkskrant sieht den Rechtsstaat auf der Kippe:

„Trump bedroht massiv die Idee von Freiheit und Verantwortung. Der Mann, der seine Anhänger 2021 ermutigte, das Kapitol zu erstürmen, hat bereits gesagt, dass er eine erneute Wahlniederlage nicht akzeptieren werde. Es liegt schon die Blaupause vor, um den Staatsapparat zu säubern. Er will politische Gegner verfolgen lassen. Mit seinem Sieg wird Amerika ein autoritäres Gesicht bekommen. Das ist nicht nur eine schlechte Nachricht für die Amerikaner. Auch dieses Amerika kann Vorbild sein für andere westliche Demokratien.“

The Economist (GB) /

Randalierer im Zaum halten

The Economist hofft, dass es nach der Wahl halbwegs friedlich bleibt:

„Warnungen vor einem bevorstehenden Bürgerkrieg sind eindeutig übertrieben. Selbst weit verbreitete Gewalt scheint unwahrscheinlich. Aber Unregelmäßigkeiten und einige wenige schlimme Vorfälle sind wohl unvermeidlich. ... Insgesamt scheint die Polizei aber vorbereitet zu sein. Und die Wahlbeamten haben Maßnahmen, wie Live-Übertragungen von Wahlurnen ergriffen, um Vertrauen aufzubauen. Die Botschaft, dass man politische Gewalt streng bestrafen wird, wäre hilfreich. Leider macht Trump genau das Gegenteil, indem er seinen Anhängern verspricht, die Randalierer vom 6. Januar im Falle seiner Wiederwahl zu begnadigen. Solange Gewalt nicht entschieden verurteilt wird, ist sie nicht auszuschließen.“

La Stampa (IT) /

Vielleicht hilft der EU eine Ohrfeige

Warum manche Analysten hoffen, dass die Wahl von Trump die EU pushen könnte, erklärt La Stampa:

„Die Ohrfeige, die die Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus verursachen würde, könnte paradoxerweise eine positive Wirkung auf die EU haben. Genau wie die großen Krisen der letzten Jahre, die die Union in gewisser Weise geschmiedet und gestärkt haben, angefangen mit Covid, das - mit der Einführung des Aufbauplans Next Generation EU - eine gemeinsame Reaktion auf die Wirtschaftskrise und mit der gemeinsamen Beschaffung von Impfstoffen auf die Gesundheitskrise begünstigte. Dies ist sicherlich eine optimistische Sichtweise, aber mehrere Analysten sind davon überzeugt, dass der durch Trumps Rückkehr verursachte Elektroschock der EU den nötigen Ruck geben könnte, um die richtigen Schritte in Richtung einer stärkeren Integration zu unternehmen.“

El País (ES) /

Auch Harris' Sieg birgt ein großes Risiko

Unabhängig vom Wahlausgang drängt für Europa die Zeit, mahnt El País:

„Ein Sieg von Harris wäre eine große Erleichterung. Genau in dieser Erleichterung läge aber auch eines der Risiken für Europa: Selbstgefälligkeit angesichts dringend notwendiger Reformen, egal ob Harris oder Trump gewinnt. Die EU ist extrem schwach, mit halb gelähmten Regierungen in wichtigen Hauptstädten (Berlin, Paris, Madrid) und anderen in Händen der extremen Rechten. In einem solchen Kontext ist es schwierig, voranzukommen, und ein Harris-Mandat könnte – bewusst oder unbewusst – ein falsches Gefühl von zeitlicher Verfügbarkeit vermitteln. Die EU verliert den globalen Wettbewerb. Sie muss in der Welt auf eigenen Füßen stehen und mit einer eigenen Stimme sprechen.“

Pravda (SK) /

Veraltetes Wahlsystem

Pravda hält das US-Wahlsystem für dringend reformbedürftig:

„Das Zweiparteiensystem schließt nicht nur andere Kandidaten auf undemokratische Weise aus, sondern es erlaubt den Bürgern auch nicht, den Präsidenten direkt zu wählen. In jedem Bundesstaat erhält der Gewinner alles. Über den amerikanischen Präsidenten entscheiden somit die sogenannten unentschlossenen Staaten, genauer gesagt einige Bezirke in ihnen. Ist das normal? Sollten die Amerikaner nach 240 Jahren nicht das Wahlsystem reformieren und an moderne Zeiten anpassen? Wie kann die Welt von einem Land dominiert werden, in dem die Bürger den Präsidenten (die Regierung) nicht direkt wählen können oder wo ein Kandidat Präsident wird, der von weniger Menschen gewählt wurde als sein Gegner?“

La Stampa (IT) /

Sympathien für Ex-Präsidenten über die USA hinaus

Trump hat auch in Europa viele Freunde, klagt La Stampa:

„Umfragen zufolge wird etwa die Hälfte der Amerikaner am 5. November für Donald Trump stimmen. Dieses 'etwa', mit der Komplikation des Wahlmännerkollegiums, wird über das Schicksal der Wahl entscheiden und liegt ausschließlich in den Händen der US-Bürger. Die Trump-freundliche Hälfte der Amerikaner ist jedoch nicht allein. Das 'etwa' berührt auch Italiener und Europäer. ... Einige – und das sind viele – aus der Überzeugung heraus, dass ein wiedergewählter Trump Amerika neu beleben, den Westen wachrütteln und eine privilegierte bilaterale Beziehung zu Italien haben würde. ... Das um den Preis, dass die USA einen egozentrischen Größenwahnsinnigen zum Präsidenten haben, der undemokratisch, unehrlich und rassistisch ist und zudem antieuropäisch und mit Autokratien sympathisiert.“

Die Presse (AT) /

Harris muss auf die Frauen hoffen

Viele Amerikaner sind für eine Präsidentin noch nicht offen, gibt Die Presse zu bedenken:

„Harris rückte zwar in die Mitte, aber ihre früheren linken Positionierungen hallen noch nach. Die Dominanz ihrer Partei bei Latinos und schwarzen Männern bröckelt. Dabei könnte – unausgesprochen – mitspielen, dass viele Wähler in den USA schlicht nicht bereit für eine Präsidentin sind. Sollte Harris dennoch als Erste über die Ziellinie kommen, wird sie es den Frauen zu verdanken haben.“

Polityka (PL) /

Nicht nur die Präsidentschaftswahl zählt

Das Wahlergebnis der Kongresswahlen könnte sich als entscheidend erweisen, schreibt Polityka:

„Mit dem Näherrücken der US-Wahlen scheint sich die öffentliche Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf den Ausgang des Rennens um das Weiße Haus zu konzentrieren, doch die gleichzeitig stattfindenden Kongresswahlen sind ebenfalls wichtig. Dies gilt umso mehr, als der Kongress zu einem der wirksamsten Hindernisse werden könnte, um Donald Trump bei seinen radikalsten Schritten zu stoppen.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung (DE) /

Schluss mit den ständigen Umfragen!

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kritisiert die Fixierung auf Umfragen vor den Wahlen:

„Umfragen können wichtige Hinweise auf Stimmungen geben, aber in Dauerschleife veröffentlicht, bedingen sie sich nur noch selbst. Meinungsforschung macht Meinung und verfälscht Ergebnisse. Sie beeinflusst einerseits die Wähler, die taktisch wählen statt nach Überzeugung, andererseits die Politiker, die keine langfristigen Entscheidungen mehr zu treffen wagen, weil sie schon auf die nächste Sonntagsfrage schielen. Wäre es nicht erleichternd, Umfragen in den letzten sechs oder vier Wochen vor dem Wahltag zu verbieten, so wie es in anderen Ländern der Fall ist? Die Öffentlichkeit könnte dann in den entscheidenden Wochen vor der Wahl über politische Themen diskutieren statt über Zahlen und Szenarien.“

Die Presse (AT) /

Zwei konträre Visionen zur Auswahl

Die Presse sieht zwei komplett unterschiedliche Weltanschauungen:

„Das Untergangsszenario Trumps verfängt bei den Wählern offenkundig mehr als die Vision von Hoffnung und einer besseren, gerechteren Zukunft. Gegen die harte Realität in den Supermärkten und Shopping Malls kommt auch die hochfliegende Rhetorik nicht an – und Kamala Harris ist nebenbei kein Barack Obama. Dass die US-Männerwelt – trotz einer Wahlempfehlung Arnold Schwarzeneggers – einer Frau mit obendrein multikulturellem Hintergrund das höchste Amt im Staat nicht zutraut, schwingt als Ressentiment mit. Noch ist die Wahl nicht gelaufen, doch die Dynamik spricht derzeit für ein Comeback Trumps und seiner düsteren Weltsicht.“

Tvnet (LV) /

Umfragen nur begrenzt aussagekräftig

Auf die Kandidaten wartet noch ein paar Tage harter Arbeit, stellt Tvnet fest:

„Wählerbefragungen führen jeden Tag dazu, dass sich die Vorhersagen über die Wählerstimmen in den Swing-States ändern, sodass ein heute prognostizierter Vorsprung von zwei Stimmen für Harris kaum Bedeutung hat. Darüber hinaus haben die letzten beiden US-Präsidentschaftswahlen gezeigt, dass die Umfragen unverhältnismäßig ungünstig für Trump ausfallen – seine Anhänger zögern offenbar, ihre Präferenz in Umfragen zuzugeben. Gilt dieser Trend auch für diese Wahl, muss Harris in den kommenden Tagen hart arbeiten, um einen überzeugenderen Vorsprung zu erzielen.“

La Stampa (IT) /

Dagegen statt dafür

Die Wahlen verlieren zunehmend ihre eigentliche Bedeutung, klagt La Stampa:

„Jeder betritt das Wahllokal mit der Absicht oder zumindest dem Wunsch, sein Leben zu verbessern, in der Hoffnung, dass das Kreuz auf einem Symbol zu mehr Wohlstand, mehr Rechten und manchmal auch zu mehr Freiheit führt. Zumindest in der Theorie. Denn in unserem Westen, aber nicht nur dort, nimmt eine andere Motivation zu: wählen, um den Sieg eines unliebsamen Kandidaten zu verhindern. Dies ist ein immer häufigeres Thema in den Wahlkämpfen einer Politik, die richtungslos zu sein scheint und die, anstatt einen Kurs aufzuzeigen, lieber den gegnerischen Kapitän delegitimiert.“

Jinov Svet (SI) /

Wer auch immer gewinnt – die Probleme bleiben

Für Sašo Ornik ändert das Votum der US-Wähler nichts Grundlegendes – und schon gar nichts zum Besseren, wie er in seinem Blog Jinov Svet schreibt:

„Sie können nur entscheiden, ob der Hauptgegner Russland oder China sein wird. ... Es bleiben eine militarisierte Polizei und überfüllte Gefängnisse. Die Armen werden immer noch arm sein und eine allgemeine Krankenversicherung bleibt ein unmögliches Unterfangen. Es werden immer noch viele Ausländer in die USA kommen, weil die Wirtschaft sie braucht, und der einzige Unterschied wird darin bestehen, ob sie über legale Programme kommen oder illegal über die Grenze geschmuggelt werden. Das Militärsystem wird weiterhin an erster Stelle stehen, es wird an Geld für die Infrastruktur fehlen. ... Nein, die Amerikaner werden sich am Dienstag nicht zwischen Faschismus und Kommunismus entscheiden.“

Új Szó (SK) /

Die Lektion könnte bitter und blutig sein

Új Szó fürchtet einen Gewaltausbruch im Falle von Trumps Niederlage:

„Die konservative Maga-Bewegung [Make America Great Again] wäre mit ihrer derzeitigen Kommunikationsdynamik nicht in der Lage, dies zu akzeptieren. ... Müssen die demokratischen Gesellschaften leider von Zeit zu Zeit am eigenen Leib erfahren, dass die Hetze von heute sich morgen in echtes Blut verwandelt? Dass diese Gefahr im Zeitalter der Macht der Worte, vor allem im Zeitalter der sozialen Medien und der Echokammern, noch viel gravierender ist? Und dass es viele autoritäre Konkurrenten gibt, die von den gesellschaftlichen Debatten verursachte Wunden suchen, um Salz in sie zu streuen?“

Le Temps (CH) /

Bedrohung der globalen Finanzstabilität

Eine Gemeinsamkeit beider Parteien sorgt Le Temps:

„Donald Trump hat die [internationalen] Feindseligkeiten durch die Einführung von Zollschranken zum Schutz der US-amerikanischen Produktion eröffnet, aber Biden ist von diesem Kurs nicht abgewichen. Beide Präsidenten haben den 'Buy American Act' verschärft. ... Biden hat sich auch dafür eingesetzt, die Unabhängigkeit der USA in Sektoren wie der Halbleiterindustrie wiederherzustellen. Trump verspricht für den Fall seiner Rückkehr bereits neue Zollschranken. Kamala Harris will ihrerseits um jeden Preis die Arbeitsplätze der Amerikaner schützen und gegenüber China die Dominanz des 21. Jahrhunderts sichern. Beide Parteien wollen ihr Programm auf Kosten höherer Staatsverschuldung umsetzen, was eine Bedrohung für die weltweite finanzielle Stabilität darstellt.“