Türkei: Erdoğan-Kontrahent Imamoğlu festgenommen
Kurz vor seiner geplanten Ernennung zum Präsidentschaftskandidaten der CHP ist Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu verhaftet worden. Am Dienstag hatte man ihm bereits den Hochschulabschluss aberkannt, eine Voraussetzung für das Präsidentenamt. Die Provinz Istanbul verhängte ein Versammlungsverbot und schränkte den Zugang zum Internet ein. Dennoch protestierten Tausende. Auch die Presse sieht eindeutig politische Motive.
Nichts kann diese Regierung noch retten
Erdoğan und Co. kämpfen mit allen Mitteln um ihr Überleben, kommentiert Birgün:
„Dies ist ein Staatsstreich aus der Hand der Regierung. Sie wollen alle Hindernisse aus dem Weg räumen, um das Regime zu konsolidieren und Erdoğan wiederwählen zu lassen. ... Diese Regierung hat dem Land nichts mehr zu bieten. Sie hat keine Chance, politisch zu überleben. ... Es ist für sie unmöglich, wieder auf die Beine zu kommen, die Dinge wieder zum Laufen zu bringen oder dem Volk auch nur Hoffnung zu geben. Selbst wenn alle Oppositionellen festgenommen und verhaftet werden, wird sich daran nichts ändern. ... Das Gute wird über das Böse siegen, die Demokratie über die Tyrannei, das Volk über das Ein-Mann-Regime.“
Ankara nutzt die Gunst der Stunde
Financial Times sieht den Schritt im Kontext aktueller Überlegungen, dass EU und Türkei stärker zusammenrücken sollten:
„Die Kritik aus Europa wird gedämpft ausfallen. Denn dort besteht die Hoffnung, dass es einen spürbaren türkischen Beitrag zur Verringerung der sicherheitspolitischen Abhängigkeit des Kontinents von den USA gibt. Solche Überlegungen kombiniert mit Trumps Rückkehr ins Weiße Haus könnten den Erdoğan-Apparat tatsächlich davon überzeugt haben, es sich leisten zu können, einen Rivalen ins Visier zu nehmen. … Ein weiterer demokratischer Rückschritt in diesem 85-Millionen-Einwohner-Land wäre ein trauriges Zeichen dafür, wie Trump 2.0 die globalen Beziehungen auf den Kopf stellt – und autoritäre Führer stärkt.“
Die ewige Präsidentschaft ist das Ziel
Erdoğan will der Opposition Stimmen kurdischer Wähler abspenstig machen, argumentiert der Türkei-Korrespondent des Tages-Anzeigers, Raphael Geiger:
„Sein Spiel geht so: Er hat einen Friedensprozess mit der kurdischen PKK-Miliz begonnen, viele kurdische Wähler neigen dem beliebten Imamoğlu zu. Sollte die CHP nicht Imamoğlu aufstellen, sondern zum Beispiel den Bürgermeister von Ankara, den eher nationalistischen Mansur Yavaş, dann könnte die CHP die Unterstützung der Kurden verlieren. Manche kurdische Wählerinnen und Wähler würden Erdoğan vorziehen, der ihnen Frieden verspricht. Es ist die ewige Präsidentschaft, die Erdogan so sucht. Und es sind Taktiken wie diese, mit denen er sich seit mehr als zwei Jahrzehnten an der Macht hält.“
Es dürfte das übliche Prozedere folgen
Von Brüssel erwartet die Frankfurter Rundschau nichts:
„Europa [ist] mehr denn je auf Erdoğan angewiesen. Nach dem Wegfall der USA als zuverlässigem Partner brauchen die europäischen Nato-Staaten an ihrer Südostflanke die Türkei, die die zweitgrößte Armee in dem Verteidigungsbündnis stellt. Die Türkei beherbergt zudem Millionen Flüchtlinge, von denen befürchtet wird, sie könnten weiter nach Europa ziehen. So kommt es auch dieses Mal wieder zum üblichen Prozedere: EU-Staaten wie Deutschland kritisieren Erdoğans Vorgehen, worauf dieser in der Regel mit Vorwürfen an die Adresse der Europäer reagiert. Nach verbalen Schlagabtauschen geht man dann wieder zum Alltag über.“
Vom Reformer zum Autokraten
Erdoğan stand einst für ganz andere Werte, blickt Naftemporiki zurück:
„Wie viel sich in 22 Jahren ändern kann. Als die AKP 2002 an die Macht kam, setzte sie fünf Reformpakete durch, darunter die Minderheitenrechte und das Justizsystem. In seinen ersten zwei Jahren an der Macht hatte der damalige 'Reformer' Erdoğan alle Bedenken hinsichtlich der Bedeutung des politischen Islams weitgehend beiseitegeschoben und die Türkei zu einem 'Modell' für demokratische Staatsführung in der muslimischen Welt gemacht. In den letzten Jahren ist der Staatschef immer mehr in den Autoritarismus abgerutscht.“