Türkei-EU: Neue Nähe, neue Chancen?
Angesichts der kriselnden Partnerschaft mit den USA sucht die EU nach neuen Wegen, ihre Verteidigung zu stärken. Eine Möglichkeit: die Türkei mit ihrer starken Armee und Rüstungsindustrie. Nato-Chef Rutte soll den EU-Staaten bereits mehr Kooperation mit Erdoğan nahegelegt haben. Dieser bringt umgekehrt immer wieder einen baldigen EU-Beitritt ins Spiel, den er als "strategische Prioriät" bezeichnet. Deutet sich da ein ganz großer Deal an?
Günstiges Klima für eine Annäherung
Die Europäer erkennen, dass sie viel mehr für die eigene Verteidigung tun müssen, analysiert De Volkskrant:
„Kurzfristig wegen des Krieges in der Ukraine und langfristig, weil eine europäische Verteidigungsstruktur aufgebaut werden muss, da man nicht länger blind auf die USA vertrauen kann. In beiderlei Hinsicht sind die Türken sehr nützlich. Erdoğan war so klug, die Frage der europäischen Verteidigung an eine andere Frage zu koppeln: den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union. ... Die Türkei hofft, über die Zusammenarbeit bei der Verteidigung die festgefahrenen Gespräche über Zollunion, Visumerleichterungen und am Ende EU-Mitgliedschaft wieder in Gang zu bekommen. Das Klima dafür scheint so günstig wie noch nie.“
Die altbekannte Brüsseler Scheinheiligkeit
Die EU möchte nur die militärische Macht der Türkei ausnutzen, sie aber nicht als Mitglied haben, kommentiert Yetkin Report:
„Die Heuchelei, die offenbar auch innerhalb der EU kontrovers zu sein scheint, besteht in der Arroganz, die Türkei einerseits in der hypothetischen 'neuen europäischen Sicherheitsarchitektur' sehen zu wollen, andererseits aber nicht zuzulassen, dass die Türkei die Frage der EU-Mitgliedschaft überhaupt aufwirft. In der Ära Trump sind die EU-Türkei-Beziehungen in einem Dreieck aus US-Druck, Angst vor Russland und dem zum Flickenteppich gewordenen 'Europa der Werte' gefangen. Die traditionellen Führungsländer der EU wollen, dass die türkischen Streitkräfte sie gegen Russland unterstützen, aber nicht über eine Mitgliedschaft sprechen. Das ist Heuchelei.“
Erst die Demokratie ernst nehmen, dann wieder anklopfen
Aktuell ist eine EU-Mitgliedschaft ein unrealistischer Wunschtraum, entgegnet Karar:
„Ja, Europa ist in Schwierigkeiten mit Trump und sucht nach einem wirtschaftlichen und politischen Ausweg. Unter diesem Gesichtspunkt wäre die Aufnahme der Türkei in die EU ein wichtiger Schritt bei der Bildung eines neuen Machtblocks. Das heißt aber nicht, dass sie europäische Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheiten und Menschenrechte vergessen und die Türkei umarmen werden. Ankaras neuer Traum von der EU lässt sich derzeit wie folgt zusammenfassen: Europa braucht uns, also soll es unser 'Vormundschaftsregime türkischer Art', unsere Gesetzlosigkeit, unsere Missachtung der Meinungs- und Pressefreiheit ignorieren und uns zum Vollmitglied machen!“
Europa bettelt am Hof des Sultans
Die Türkei soll für Europa die Drecksarbeit übernehmen, analysiert Liberal:
„In einer Notsituation wendet sich Europa nun an die Türkei als 'magische Lösung' für seine Sicherheit und strategische Bedeutung. ... Ja, das Europa der Werte und Prinzipien, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit bettelt bei Erdoğan um einen Ausweg aus seiner strategischen Sackgasse. ... Die Unfähigkeit der europäischen Länder, die vorerst theoretische Frage zu beantworten, wer bereit wäre, Friedenstruppen in der Ukraine zu stationieren, führt sie zur Türkei. Diese würde die Entsendung von zehn-, zwanzigtausend Mann oder mehr für eine Rolle, die Europa nicht übernehmen will oder kann, niemals ablehnen. Die Debatte über eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa, in die auch die Türkei einbezogen werden müsse, ist nichts als eine Verpackung für diesen schmutzigen Job, den man der Türkei übertragen will.“