Welche Weichen stellen für Europas Verteidigung?
Trump verhandelt mit Putin über die Ukraine – und die Nato steckt wegen der aktuellen US-Politik in einer Sinnkrise: Vor diesem Hintergrund wird in der EU viel über Aufrüstung, gemeinsame Verteidigung und weitere Unterstützung Kyjiws diskutiert. Europas Medien debattieren Grundlagen und Probleme eines möglichen neuen Sicherheitsmodells.
Italien sollte sich an neuer Dynamik beteiligen
La Repubblica mahnt Rom, sich der Verteidigung anzunehmen:
„Die Verteidigung verändert, wie wir sehen, die alte EU: wirtschaftliche und steuerliche Entscheidungen ändern sich, politische Gleichgewichte verschieben sich. Und das führt zu größerer Flexibilität: zu Ad-hoc-Koalitionen mit Großbritannien und Norwegen und der faktischen Überwindung der mit der Einstimmigkeit verbundenen Lähmung. ... Italien kann sich an dieser neuen Dynamik beteiligen: Es sollte als nationales Interesse betrachtet werden, das es zu vereinen gilt, anstatt zu spalten. Oder es kann im Abseits bleiben und hoffen, dass Russland nicht so bedrohlich ist. Und dass Amerika uns mit besonderer Rücksicht behandelt. Das sind Illusionen, es wäre unklug, darauf unsere nationale Sicherheit zu gründen.“
Brüssel muss mehr nach Süden schauen
Russlands zunehmender Einfluss im Sahel darf nicht ignoriert werden, warnt La Vanguardia:
„Spanien muss Brüssel dazu bringen, auch nach Süden zu schauen. Russland hat seinen Einfluss in der Sahelzone ausgeweitet. ... Wir reden von Seltenen Erden der Ukraine? Dort geht es um Erdöl, Erdgas, Uran, Gold. ... Das Kraftwerk Saporischschja? Russland wird in diesem Jahr ein leistungsstarkes Kernkraftwerk in Burkina Faso fertigstellen. Reden wir über Sicherheit? Die Sahelzone ist das globale Epizentrum des Terrorismus, in dem islamistische Gruppen die Hälfte aller Terroropfer der Welt verursachen. Ein Pulverfass. Und es ist ziemlich nah.“
Die Integration schreitet voran
Die EU verändert sich grundlegend, schreibt Tygodnik Powszechny:
„Die Europäische Union tritt in die nächste Phase ihrer Integrationsgeschichte ein. Ihre Grundlagen sind der Abschied von Amerika als glaubwürdigem Garanten unserer Sicherheit, der Aufbau einer Verteidigungsunion angesichts einer realen Bedrohung und die Verbindung von Industrie- und Rüstungspolitik. All dies ohne Konvente, ohne Vertragsänderungen und ohne politische Schaumschlägerei.“
Geld und Soldaten wären genug da
Die militärische Gefahr durch Russland wird überschätzt, meint Irish Independent:
„Die Verteidigungsausgaben Europas belaufen sich derzeit auf insgesamt rund 400 Milliarden Euro jährlich. In Russland sind es selbst in Zeiten der Kriegswirtschaft rund 134 Milliarden Euro. Und das Land hat kaum Spielraum für mehr. Europas Nato-Mitglieder könnten derzeit eine Armee mit insgesamt 1,7 Millionen Soldaten aufstellen. Die europäische Wirtschaft insgesamt ist viel größer als die russische. ... Daher kann Europa schon jetzt – ohne erhöhte Verteidigungsausgaben – jede weitere Bedrohung durch Russland abwehren. Russland hat es ja bisher nicht einmal geschafft, sich aus der Ostukraine herauszukämpfen.“
Es braucht auch neue Kommandostrukturen
Aufrüstung allein wird nicht reichen, wenn die EU zum außenpolitischen Akteur werden will, betont die Welt:
„Neben einer Militärmacht braucht es neue Kommandostrukturen im Rahmen einer Europäischen Verteidigungsunion. Sie beruht auf der alten Idee des 'Europa der zwei Geschwindigkeiten'. Denn nicht der Verwaltungsapparat der EU sollte sich die Verteidigung aufbürden, es sollte eine schlanke Institution geschaffen werden. In ihr kommen nur die Willigen zusammen und verpflichten sich dem Mehrheitsprinzip. Anders als in der EU sollte es dort keinen einzelnen Staat geben, der wie Ungarn alles aufhalten oder nun wie Spanien einiges verwässern kann. Derartiges zu schaffen, ist kein Hexenwerk. ... Es braucht nur den politischen Willen dazu.“
Aufrüstung auf nationaler Ebene bringt nichts
El Periódico de Catalunya kritisiert von der Leyens Pläne:
„Weder Spanien noch eines der EU-Mitglieder ist in der Lage, seinen Verteidigungsbedarf allein zu decken. Aufrüstung auf nationaler Ebene – wie sie von der Leyen anscheinend vorschlägt – gewährleistet weder die Sicherheit jedes EU-Mitgliedsstaates noch bringt sie der EU echte strategische Autonomie. Daher müssen die Anstrengungen gemeinsam und unter der Leitung von Brüssel unternommen werden. So könnten Verteidigungspläne für die gesamte Union definiert, der Bedarf ermittelt und die Aufgaben zum Nutzen aller aufgeteilt werden. ... Was Spanien betrifft, so sind weder seine Waffenindustrie noch seine Streitkräfte in der Lage, alle Herausforderungen zu meistern. Aber an diesem Punkt ist man anscheinend nicht angekommen.“
Weiter mit den USA kooperieren
Noch ist Europa nicht stark genug, um ohne die USA auszukommen, meint Kristeligt Dagblad:
„Europa befindet sich noch nicht in einer Situation, in der wir es uns leisten können, die USA abzulehnen. Für einige Zeit werden wir uns auf eine zweigleisige Sicherheitspolitik verlassen müssen. Zum einen müssen wir uns so weit wie möglich selbst bewaffnen, um Europa in die Lage zu versetzen, sich selbst zu verteidigen, und uns so weniger abhängig von den Amerikanern zu machen. Zum anderen müssen wir das amerikanische Engagement in Europa so lange wie möglich aufrechterhalten, denn trotz Trumps offensichtlicher Schwächung der Nato-Kooperation enthält diese immer noch Elemente der Abschreckung.“
Die ukrainische Armee einbinden
Politologe Alvydas Medalinskas empfiehlt in LRT:
„Da Großbritannien nicht mehr Mitglied der EU ist und die Türkei auf dem Weg dorthin feststeckt, rückt eine neue Option in greifbare Nähe. Auch die Ukraine strebt in die EU – sie verfügt wie die Türkei über eine große und schlagkräftige Armee. Sie ist zudem die einzige Armee Europas mit realer Kampferfahrung gegen Putins Russland – und hochmotiviert. Vor diesem Hintergrund könnte Europa beginnen, ein neues gemeinsames Verteidigungssystem aufzubauen. Eines, das in Partnerschaft mit Washington funktioniert, aber zunehmend eigenständige Verantwortung für Europas Sicherheit übernimmt – unabhängig von der EU-Mitgliedschaft. Das ist eine neue Chance für Europa. ... Zudem ist es auch eine neue Chance für die Ukraine.“
Zugeständnisse der Rüstungsindustrie unvermeidbar
Frankreichs Industrie muss diesmal kooperieren, drängt Libération:
„Es ist schön, gemeinsam ein Flugzeug oder einen Panzer zu entwickeln, doch das erfordert, dass einige Hersteller zugunsten eines europäischen Partners eine hart erkämpfte Kompetenz aufgeben. ... Dies hat zum Scheitern des Projekts eines europäischen Kampfjets geführt, der in den 80er und 90er Jahren anstelle der französischen Rafale und des italienisch-spanisch-britisch-deutschen Eurofighters hätte entwickelt werden sollen – zweier Kampfflugzeuge, die einander seitdem Konkurrenz machen. Es wäre notwendig gewesen, dass sich dafür in Frankreich der Radar-, der Raketen-, der Flugzeug- oder der Triebwerkhersteller zurückziehen, was kompliziert ist, wenn man Marktführer ist. Doch ist das existentiell, wenn es darum geht, als Gemeinschaft stärker zu sein.“
Ein handfester Interessenkonflikt
Das Handelsblatt kritisiert die Zurückhaltung der EU-Staaten im Süden und Westen:
„[J]e weiter weg die russische Grenze, desto geringer die gefühlte Bedrohung. ... Der zweite Faktor ist der Verschuldungsgrad: Die Mittelmeerländer sind ohnehin schon hochverschuldet und wollen ihren Schuldenberg durch teure Waffenkäufe nicht noch vergrößern. Stattdessen streichen sie lieber weiter die Friedensdividende ein. Für die Sicherheit Europas können ja die EU-Partner im Norden und Osten sorgen, scheinen sie zu denken. Dass diese Einstellung bei Litauern und Polen, Dänen und Niederländern Irritationen auslöst, ist nachvollziehbar. ... In der Verteidigungsfrage bahnt sich der nächste große Interessenkonflikt in Europa an.“
Starke Militarisierung führt zu Krieg
Über 2500 Wissenschaftler haben einen Appell gegen die Aufrüstung unterzeichnet, den Corriere della Sera veröffentlicht:
„Als Wissenschaftler – von denen viele auch in Disziplinen tätig sind, die mit Militärtechnologie zu tun haben –, als Intellektuelle, als Bürger, die sich der heutigen globalen Risiken bewusst sind, glauben wir, dass es die moralische und staatsbürgerliche Pflicht eines jeden Menschen guten Willens ist, sich gegen den Ruf nach einer weiteren Militarisierung Europas auszusprechen und zu Dialog, Toleranz und Diplomatie aufzurufen. Eine starke Militarisierung verteidigt nicht den Frieden, sondern führt zu Krieg. .... Das Letzte, was wir brauchen, ist, dass der Alte Kontinent von einem Leuchtturm der Stabilität und des Friedens zu einem neuen Kriegsherrn wird.“
Gemeinsame Armee leider unwahrscheinlich
Newsweek Polska glaubt nicht an die Schaffung gemeinsamer europäischer Streitkräfte:
„Es gibt gute Gründe, warum die Idee einer gemeinsamen Armee auf den ersten Blick attraktiv erscheint. Die europäische Verteidigung ist unzureichend. Durch gemeinsame Anschaffungen würden wir für das gleiche Geld viel mehr bekommen. Die Schaffung einer europäischen Armee wäre auch ein starkes politisches Signal und ein großer Schritt in Richtung Einigkeit. Es ist jedoch sehr unwahrscheinlich, dass dieser Vorschlag verwirklicht werden kann. Denn die Liste der 'Aber' ist viel länger. Nationale Interessen und das starke Beharren auf Souveränität werden wahrscheinlich immer überwiegen.“
Gut vernetzt und wehrhaft
Europa entdeckt endlich seine eigene Macht, freut sich die Frankfurter Rundschau:
„Das neue Zusammenrücken von London, Paris und Berlin ist ein Hoffnungszeichen für die ganze Welt. So sehen es auch Japan, Südkorea und Australien, die in den Runden zugeschaltet sind, zu denen der britische Premier Keir Starmer am Wochenende erneut eingeladen hatte. ... Starmer plant Sicherheitsgarantien für den Fall, dass ein von der Ukraine unterschriebener Waffenstillstand erneut von Russland gebrochen wird. ... Frankreich ließ am Wochenende ein Awacs-Aufklärungsflugzeug, begleitet von zwei Kampfjets, über dem Schwarzen Meer aufsteigen ... . Aus Europa kommen verblüffend schlechte Nachrichten – für Putin und für Trump.“
Es braucht Koalitionen der Willigen
Der Weg von London und Paris ist richtig, urteilt der Historiker und Schriftsteller Timothy Garton Ash in La Repubblica:
„Angesichts von Trumps Unzuverlässigkeit muss die Ausweitung der französischen und britischen nuklearen Abschreckung überdacht werden. Die EU wird zu einem wichtigen Akteur im Verteidigungssektor, insbesondere bei der Unterstützung der Ukraine und bei der Beschaffung von Waffen. Und da in der EU wie in der Nato einige Putin-freundliche Elemente wie Orbán in Ungarn im Weg stehen, werden gewisse weiterreichende Verteidigungsverpflichtungen 'Koalitionen der Willigen' erfordern, wie die für die Ukraine, an der der britische Premier Keir Starmer mit dem französischen Präsidenten arbeitet.“
Raus aus der Nato – und mehr Geld für Verteidigung
Eldiario.es fordert die komplette Loslösung von den USA in Sicherheitsfragen:
„Europa braucht umfassende strategische Souveränität, Verteidigung eingeschlossen. ... Nur den Verteidigungshaushalt aufzustocken, ohne irgendeine Entscheidung über unser Verhältnis zu den USA zu treffen, ändert nichts am Problem. Wir sind weiterhin militärisch abhängig vom amerikanischen Imperium. Wenn jemand glaubt, dass sich in Spanien mit zwei oder drei Prozent des BIP für die Verteidigung etwas ändert, dann hat der Wille die analytischen Fähigkeiten getrübt. ... Ja zu mehr Verteidigung, ja für strategische Unabhängigkeit von den USA, aber im Gegenzug auch ein Ausstiegsplan aus der Nato.“