Anschlag in Ankara: Suche nach Schuldigen
Türkische Ermittler gehen davon aus, dass der Anschlag in Ankara von zwei Selbstmordattentätern der IS-Terrormiliz ausgeführt wurde. Dies sagte Premier Ahmet Davutoğlu am Montag. Niemand muss sich über die Präsenz der Dschihadisten in der Türkei wundern, meinen einige Kommentatoren. Andere fürchten weitere Gewaltakte vor der Wahl, da diese der Regierungspartei AKP Vorteile verschaffen könnten.
Vom Schutzwall zum Pulverfass
Es ist scheinheilig, dass sich der Westen nun erstaunt darüber gibt, dass die IS-Terrormiliz hinter dem Bombenanschlag in Ankara stehen soll, schimpft die liberale Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore: "Mit einem Mal entdecken wir, dass in der Türkei der islamische Extremismus Fuß gefasst hat, der Syrien und den Irak zerstört. Dabei berichten Zeitungen und Fernsehen seit vier Jahren über den mehr als regen Verkehr von Anti-Assad-Kämpfern auf der 'Autobahn der Dschihadisten' von der türkischen Provinz Hatay nach Syrien. Der Westen war nicht nur Zuschauer, sondern schweigender Mittäter. Die Türkei, seit 60 Jahren Nato-Mitglied und seit Jahrzehnten im Vorzimmer der EU, der Schutzwall des Westens, hat alle Probleme des Nahen Ostens importiert. Sie ist gemäß dem Willen von Präsident Erdoğan zum Gastland des islamischen Dschihad geworden."
Erdoğans Befreiungsversuch
Der Anschlag in Ankara zeigt, wie sehr sich der türkische Präsident Erdoğan innen- und außenpolitisch in die Sackgasse manövriert hat, meint die linksliberale Tageszeitung To Ethnos: "Um die absolute Mehrheit zu erreichen hat Erdoğan einen totalen Krieg gegen die Kurden eröffnet und nutzt antidemokratische Praktiken wie die Verfolgung von Journalisten. Zur gleichen Zeit erscheint die Türkei in Syrien voll isoliert, während die USA die 'moderaten' Dissidenten im Stich lassen und Putin mit dem Kronprinz von Abu Dhabi spricht. Ein Zeichen der Isolation Erdoğans ist die Distanz, die ihm gegenüber die EU, Nato, USA, Saudi-Arabien und die Emirate halten: Bei allen möglichen politischen Kompromiss-Szenarien für Syrien ist kein Platz und keine Rolle für die Türkei vorgesehen. Wenn Erdoğan schon Krieg gegen die PKK führt um die pro-kurdische HDP als vierte Partei im Parlament zu verhindern, stellt sich die Frage, was nach dem Anschlag von Samstag noch alles passieren wird, je näher die Wahl am 1. November rückt."
Ein türkischer Klassiker
Das Attentat von Ankara steht in einer langen Tradition ähnlicher Taten, meint die liberale englischsprachige Tageszeitung Hürriyet Daily News: "Es ist ein türkischer Klassiker in dem Sinne, dass sich immer, wenn die türkische Politik in trübe Gewässer steuert, ein tödlicher Zwischenfall ereignet, ob in Form eines Attentats, das so vielen Menschen wie möglich schaden soll, oder in der Ermordung Prominenter. Es ist ein türkischer Klassiker, weil so manche, nicht nur die pro-kurdische Oppositionspartei, sondern auch gewöhnliche Leute den Staat, also in anderen Worten die AKP-Regierung verdächtigen, in das Attentat verwickelt zu sein. So ist der längst vergessene 'tiefe Staat' wieder auf der Tagesordnung und sorgt für ein Déjà-vu. Es ist ein türkischer Klassiker, denn die Gräueltat kam mit Ankündigung. Seit die Türkei ihren Luftwaffenstützpunkt İncirlik für die Streitkräfte der Koalition im Kampf gegen den IS geöffnet hat war es offensichtlich, dass das ganze Land zum Ziel dieser blutigen Organisation werden würde."
EU darf Türkei nicht mehr warten lassen
An der Lage in der Türkei ist nicht nur der türkische Präsident schuld, sondern auch die EU, findet der Journalist Leonídio Paulo Ferreira in der liberal-konservativen Tageszeitung Diário de Notícias: "Es heißt, die Türkei gehe gerade durch 'dunkle Zeiten'. Als Schuldigen bezichtigt man gern - und teilweise zu Recht - Präsident Erdoğan. ... Doch die EU muss sich auch an die eigene Nase fassen. Sie hat diesen alten Beitrittskandidaten nämlich zu lang vor der Tür stehen lassen. Dies hat nicht nur Erdoğan enttäuscht (und ihn dazu gebracht anderen geopolitischen Prioritäten nachzugehen), sondern auch den 'westlichsten' Teil der Bevölkerung frustriert. ... Für Europa ist es von herausragender Bedeutung, dass die Türkei eine Erfolgsgeschichte, eine blühende Demokratie in einem muslimischen Land, bleibt. Wir sollten daher die westliche Berufung dieses Volkes endlich erkennen und einsehen."