Merkel macht Türkei Zugeständnisse
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat der Türkei am Sonntag in Istanbul Finanzhilfen und Visa-Erleichterungen versprochen, wenn das Land in der Flüchtlingskrise enger mit der EU kooperiert. Fehlende Solidarität der EU-Staaten und innenpolitischer Druck lassen Merkel keine andere Wahl, meinen einige Kommentatoren. Andere sind sich sicher, dass die türkische Staatsspitze diese Situation ausnutzen wird.
Deal mit Ankara könnte teuer werden
Innenpolitisch unter Druck wie nie zuvor, könnte Merkel unliebsame Zugeständnisse an die Türkei machen müssen, analysiert die konservative Frankfurter Allgemeinen Zeitung: "Europa erlebt die größte Völkerwanderung seit dem [Zweiten Welt-]Krieg; in deren Zentrum steht, wie in der Schuldenkrise, Deutschland. Angesichts Hunderttausender Flüchtlinge sehen sich Länder und Kommunen zunehmend überfordert, wird der Unmut in der Bevölkerung immer größer. Dieser Unmut richtet sich vor allem gegen Angela Merkel: Die historische Flüchtlingskrise wird zur großen Krise ihrer Kanzlerschaft. ... Merkel hat am Sonntag ... eine Vorstellung von den Erwartungen Ankaras bekommen. Dazu wird die Wiederbelebung der Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei zur EU gehören, der bekanntlich nicht zu Merkels Prioritäten gehört. Interessenkollisionen und politische, moralische und völkerrechtliche Dilemmata verbinden sich. ... Wie hoch ist der Preis für türkische Kooperation?"
Merkels Flucht nach vorn
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat keine Wahl als die Annäherung an die Türkei, analysiert die Wirtschaftszeitung De Tijd: "Die deutsche Kanzlerin war im August noch der moralische Kompass in der Flüchtlingskrise. ... Kaum zwei Monate später, ist davon wenig übrig. Der erschreckende Mangel an Solidarität in Europa, allen voran aus den früheren Ostblockländern, sorgte dafür, dass die Krise völlig entgleist ist. ... Ihr großzügiger Ansatz bei der Flüchtlingskrise kehrt sich nun völlig gegen sie. Dass sie sich nun für die Flucht nach vorne entscheidet, verwundert nicht. Das tat sie übrigens auch in der Eurokrise. Doch nun muss sie sowohl mit den Schlingeln in Europa als auch mit einer feindlichen [innenpolitischen] Umgebung abrechnen. Daher entscheidet sie sich für den zynischsten Weg, den Machiavellismus, den harten Realismus. Sie hat kaum eine Alternative."
Europa darf Berlin nicht allein lassen
Angela Merkels Mission in der Türkei wäre weniger kompliziert, wenn sie in der Flüchtlingskrise auf die Solidarität der übrigen Europäer setzen könnte, bemerkt die wirtschaftsliberale Hospodářské noviny: "Die Türkei geniert sich nicht, für einen Vertrag, auf dessen Grundlage die Flüchtlinge zurückgehalten werden könnten, einen Batzen Geld zu verlangen. ... Ideal wäre es deshalb, wenn die Europäer gemeinsam an einem Strang zögen und Merkel Hilfe in Form von freien Kapazitäten für die Aufnahme von Flüchtlingen anböten. Zudem sollten sie einen gesamteuropäischen Konsens herstellen, um der türkischen Erpressung wirksam zu begegnen. Leider sieht es nicht danach aus. Namentlich auch die tschechischen Politiker zeigen sich unbelehrbar, populistisch und eigensinnig. Merkel steht allein da."
Erdoğan nutzt die Probleme der EU aus
Erdoğan wird die Flüchtlingskrise für sich zu nutzen wissen, meint die liberale Internetzeitung T24 mit Blick auf Merkels Besuch in Istanbul: "Nachdem Erdoğan den Rechtsstaat, Grundrechte und Freiheiten bereits zu den Akten gelegt hat, plagt ihn nun das Problem, wie er sich vom Druck durch den Westen befreien kann. Auch wenn er ab und zu streitet und flucht, ist klar, dass er damit gründlich überfordert ist. In der Flüchtlingskrise und im von Deutschland und der EU vorbereiteten Schmiergeld sieht er seine Chance. Seine Bedingung ist, dass seine 'politische Verfolgung', also der Druck des Westens auf ihn sowie die tägliche Kritik an ihm in den westlichen Medien ein Ende finden. Er glaubt jedenfalls, dass die Flüchtlinge der schlimmste Albtraum des Westens sind und der Westen ihm deshalb alles geben werde, was er fordert. Darum hat er sich eine besonders schwer zu erfüllende Bedingung ausgesucht."