Was sind die Lehren aus dem Ukraine-Referendum?
Nach dem Nein der Niederländer zum EU-Assoziierungsabkommen haben Politiker das Instrument der Volksabstimmung kritisiert. Kommentatoren fordern von Europas Politik Konsequenzen: eine Grundsatzdiskussion über die Strukturen der Union und eine selbstbewusste Kampagne für eine starke und vereinte EU.
Nationale Parlamente brauchen mehr Macht
Das Misstrauen der Bürger gegenüber der EU ist im niederländischen Referendum einmal mehr deutlich geworden, analysiert die linksliberale Tageszeitung Le Monde:
„Über alle großen Entscheidungen, die die demokratisch gewählten Regierungen der 28 treffen, stimmen anschließend das Europäische Parlament und danach die nationalen Gesetzgeber ab. Darin liegt die Quintessenz der repräsentativen Demokratie. Die Bürger der 28 EU-Staaten sehen jedoch etwas Anderes: eine bürgerferne und wenig demokratische Maschinerie. So erklärt sich die ablehnende Haltung bei jeder Volksbefragung zu einem europäischen Thema. Und die Drohung, ein Referendum durchzuführen, wird zu einem permanenten Erpressungsinstrument für euroskeptische Parteien. Um zu verhindern, dass die Union unregierbar wird, muss dem Rechnung getragen werden. Ein Tabuthema muss endlich diskutiert werden: die EU-Institutionen - und eine Reform, die die nationalen Parlamente direkt in die großen europäischen Entscheidungen einbindet.“
Von den Populisten lernen
Nach dem niederländischen Referendum sollten die EU-Befürworter von der Nein-Front lernen, die eigenen Ideen besser zu präsentieren, fordert der litauische EU-Abgeordnete Petras Auštrevičius in der Tageszeitung Lietuvos žinios:
„Europas Populisten und Radikale haben den Moment genutzt und ihrer Freude in sozialen Netzwerken Ausdruck verliehen. Gleichzeitig verhielten sich die EU-Unterstützer wie immer zurückhaltender. Der Präsident der EU-Kommission Juncker ist traurig - eine komische Laune für einen Politiker, der für die EU-Politik verantwortlich ist. Es ist nun mal nicht die Zeit zum Trauern, sondern man muss die Ergebnisse analysieren und möglichst schnell eine überzeugende Kampagne für eine starke und vereinigte EU starten. … Wir müssen gemeinsam gegen diejenigen handeln, die sich in Europa für die Interessen des Kremls stark machen und Chaos verbreiten. Und dies ist umso dringender, weil das Referendum in Großbritannien vor der Tür steht.“
Volksabstimmungen sind kein Spielzeug
Einen unbedachten Umgang mit der direkten Demokratie beklagt die liberale Tageszeitung Aamulehti:
„Die perverse Abstimmung in den Niederlanden hilft sicherlich den EU-Gegnern bei dem etwas weniger perversen 'Brexit'-Referendum, das in der Mittsommerwoche in Großbritannien abgehalten wird. Volksabstimmungen sind bei wichtigen und zentralen Fragen ein gutes Verfahren und Teil der funktionierenden Demokratie. Aber irgendwo muss es eine Grenze geben, insbesondere in der heutigen Zeit, in der die Menschheit mit dem von ihr entwickelten Spielzeug Internet so spielt, wie das Mädchen, das in einer Feuerwerksfabrik Streichhölzer gefunden hat.“
Das hat mit Demokratie nichts zu tun
Angesichts der geringen Wahlbeteiligung von rund 32 Prozent stellt der Publizist Walter Zinzen in der liberalen Tageszeitung De Standaard das Instrument der Volksabstimmung generell infrage:
„Wenn das Ukraine-Referendum eines bewiesen hat, dann ist es dies: Ein Referendum ist das Gegenteil von dem, was es vorgibt zu sein - nämlich demokratisch. ... Man kann doch unmöglich behaupten, dass 60 Prozent (die Nein-Wähler) von 32 Prozent eine demokratische Mehrheit ist. Wenn fast 70 Prozent der Wähler nicht abstimmen, dann ist das die Mehrheit. ... Bei einer so geringen Wahlbeteiligung zwingt eine kleine Gruppe der Mehrheit ihren Willen auf. Wer kann so etwas demokratisch nennen? ... Wie sollen normale Bürger, die ganz andere Sorgen haben, über so komplexe und komplizierte Themen entscheiden? Sie haben nicht die Zeit, sich darin gut zu vertiefen. Dafür bezahlen die Bürger im Prinzip ihre Gewählten, und die können dann fachkundig entscheiden. “
Populisten missbrauchen Referenden
Das niederländische Referendum diente den Bürgern eher dazu, ein Ventil für die allgemeine Unzufriedenheit mit der EU zu finden, als sich mit dem Ukraine-Abkommen auseinanderzusetzen, meint die linksliberale Tageszeitung El País:
„Die repräsentative Demokratie mag noch so diskreditiert sein, aber die als Alternative präsentierte direkte Bürger-Partizipation ist noch lange kein Allheilmittel. Im Gegenteil: Wie wir in ganz Europa sehen - von Griechenland bis Großbritannien, von Ungarn bis zu den Niederlanden - drohen die Referenden zum wirksamsten Mittel der Populisten zu werden, mit dem sie die Demokratie infrage stellen, das europäische Projekt in die Krise stürzen und in diesem Fall noch dazu Wladimir Putin in die Hände spielen. ... Wieder einmal - wie schon in den meisten Referenden zu europäischen Themen innerhalb der vergangenen zwei Jahrzehnte - haben die Wähler nicht auf die Frage geantwortet, die ihnen gestellt wurde, sondern auf die, die sie eigentlich gerne beantworten würden.“
Regierung Rutte im Teufelskreis gefangen
Die klare Mehrheit der Niederländer gegen das EU-Abkommen mit der Ukraine setzt Den Haag und die EU unter Druck, stellt die linksliberale Tageszeitung De Volkskrant fest:
„Die niederländischen Wähler haben den Zweifeln an der Zukunft des europäischen Projekts am Mittwoch erneut Nahrung gegeben. Die Regierung Rutte steht nun vor der lebensgroßen Herausforderung, das Ergebnis in etwas Greifbares umzusetzen, etwas das die Volkswut nicht noch vergrößert. ... Doch die Enttäuschung ist programmiert. ... Es droht ein Teufelskreis der Euroskepsis. Was das Kabinett auch tut, das Nein-Lager wird jedes europäische Zugeständnis als Kosmetik verstehen, als eine Bestätigung des Bildes, dass die Niederlande in der Realität wenig zu sagen haben. Eine Bestätigung des Gefühls, dass es Grund für die Wut gibt. Das Referendum hat dieser Wut erneut eine Stimme gegeben, aber sicherlich nicht den großen Druck vom Kessel genommen.“
EU ist der große Verlierer
Die Niederländer haben der EU eine schallende Ohrfeige verpasst, und das so kurz vor dem britischen Referendum, stöhnt die liberale Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore:
„Den Haag könnte nun verlangen, einige Klauseln des Abkommens neu zu diskutieren, vor allem diejenigen mit politischem Charakter. Doch dürfte das Abkommen, das auf gemeinschaftlicher Ebene ausgehandelt und ratifiziert wurde, schwerlich in seinem Gesamtansatz abgewandelt werden. Dennoch ist die EU, die schon mit quälender Ungewissheit das Brexit-Referendum vom 23. Juni erwartet, der großer Verlierer. Und sieht voller Sorge auf einen Präzedenzfall auf dem Gebiet internationaler Absprachen, der das gesamte Entscheidungssystem der EU in Frage stellen könnte.“
Niederländer spielen Moskau in die Hände
Die Niederländer haben mit ihrem Nein beim Referendum die Einheit Europas aufs Spiel gesetzt, schimpft die liberalkonservative Tageszeitung Postimees:
„Die Gegner des Assoziierungsabkommens sagen, dass die Ukraine ein korrupter Staat ist und dass sie kein neues Griechenland in Europa wollen. Es ist ihnen egal, dass niemand außer den Ukrainern selbst von einem Beitritt in die EU redet. Es ist nicht schwer zu erraten, in welcher Hauptstadt man sich über dieses Ergebnis besonders freut. Bis jetzt gelang es der EU, in der Ukraine-Frage und bei den Sanktionen mit einer Stimme zu sprechen, auch wenn es ab und zu Kritik gab. Nun haben die Niederländer diese Einheit aufs Spiel gesetzt. Es ist die Ironie der Geschichte, dass die Sanktionen gegen Russland gerade nach dem Abschuss des Malaysian-Airlines-Fliegers in der Ostukraine 2014 eingesetzt wurden. Die meisten Getöteten in dieser Katastrophe waren Niederländer.“
Niederländer können gesamte EU blockieren
Eine Ablehnung des Assoziierungsabkommens mit der Ukraine durch die Niederländer wäre verheerend, meint der liberale Abgeordnete des polnischen Parlaments Marcin Święcicki in einem Gastbeitrag für die liberale Tageszeitung Gazeta Wyborcza:
„Das hieße für die gesamte Gemeinschaft, dass eine einfache Mehrheit in einem Referendum in einem einzigen Land ausreicht, um eine Entscheidung zu blockieren, die alle anderen 27 Staaten, das Europaparlament und auch die Ukraine gefällt haben. Das Recht auf ein Veto bei den wichtigsten Angelegenheiten führt dazu, dass die EU keine Entscheidungen fällen kann. Dies bestätigt die These, dass die EU entweder auseinander fällt oder ein föderales System bilden muss, in dem Entscheidungen mit einer einfachen Mehrheit der Stimmen gefällt werden, die demokratisch gewählte Institutionen treffen.“
Trendsetter für den Brexit?
Das Referendum in den Niederlanden ist ein Testlauf für die Brexit-Abstimmung in Großbritannien, meint Eric Bonse in seinem Blog Lost in Europe:
„Es macht ... keinen Sinn, wie es die Mainstream-Medien tun, die Referenden in beiden Ländern als 'willkürlich', 'überflüssig', 'am Thema vorbei' etc. abzutun. Das greift zu kurz. Wir täten besser daran, das Leiden an diesem Europa und seiner (zunehmend deutschen) Führung, ernst zu nehmen. Es ist ein zutiefst demokratisches Leiden, auch wenn es populistisch daherkommt. Wenn die Niederländer Nein sagen, könnten sie zu Trendsettern für die Briten - und den 'Brexit' - werden. 2005 ist das schon einmal passiert - damals haben sie den Verfassungsvertrag zu Fall gebracht.“
Referendum gegen die EU
Einen gefährlichen Dominoeffekt der Abstimmung fürchtet die liberale Tageszeitung La Stampa:
„Die Initiative für das Referendum ergriff die Webseite Geenstijl, was übersetzt 'stillos' bedeutet. Ziel war es, dem 'demokratischen Defizit in der EU' die Stirn zu bieten, die beschuldigt wird, nicht auf die Bürger zu hören. Es genügten 300.000 Unterschriften, doch man sammelte 428.000. So haben die Initiatoren die ohnehin schon schwache sozialliberale Koalitionsregierung in Bedrängnis gebracht und die Voraussetzung für den perfekten globalen Sturm geschaffen. Ein Sieg des Nein - das von der [sozialistischen] Opposition und der rechtspopulistischen Partei unterstützt wird - würde als klare Absage an die EU ausgelegt. Eine Absage, die überall den Euroskeptikern zuspielen würde, angefangen bei den Briten, die im Juni wählen. Sie könnte einen verheerenden Dominoeffekt auslösen.“
Missbrauch der Demokratie
Bei dieser Abstimmung geht es nicht wirklich um das Verhältnis der EU zur Ukraine, sondern darum, Brüssel einen Denkzettel zu verpassen, kritisiert die linksliberale Tageszeitung The Guardian:
„Bei solchen Plebisziten stimmen die Wähler nicht notwendigerweise über die gestellte Frage ab, sondern sind versucht, ihren Kümmernissen in anderen Fragen Ausdruck zu verleihen. Nicht bindende Abstimmungen sind besonders heikel. ... Solche Referenden sind wohl eine schlechte Entwicklung in Europa. Als Ausdruck des Volkswillens könnten sie echte Bedeutung haben, sofern es um strategische Richtungsentscheidungen geht, die sinnvoll debattiert werden. Doch wenn sie unbesonnen organisiert werden, stellen sie eine Verweigerung der repräsentativen Demokratie dar. Das niederländische Parlament hat bereits für das EU-Ukraine-Abkommen gestimmt. Davon sollte sich die Regierung leiten lassen.“
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