Wiens umstrittene Abschottungspolitik
Österreich hat mit Bauarbeiten am Brennerpass begonnen, um dort wieder Grenzkontrollen einzuführen. Am Ende soll zusätzlich ein Zaun Flüchtlinge aus Italien stoppen. Nach der Schließung der Balkanroute schottet sich das Land damit weiter ab. Während einige Kommentatoren Wien scharf dafür kritisieren, äußern andere Verständnis für das Vorgehen.
Hört auf Helmut Kohl!
Im Vorwort zur ungarischen Ausgabe seines jüngsten Buches kritisiert Altkanzler Helmut Kohl die europäische Flüchtlingspolitik. Im Grunde vertritt er die gleiche - und vernünftige - Meinung wie Wien, findet Corriere del Ticino:
„Eines ist es, wenn die Visegrád-Staaten ausscheren und sich den Befehlen Jean-Claude Junckers widersetzen. ... Etwas anderes ist es, wenn sich der Gruppe der Gehorsamsverweigerer eine große westliche Demokratie wie Österreich anschließt. ... Doch damit nicht genug. Politische Persönlichkeiten einer gemäßigten Front, der sicher keine Sympathien für rechtspopulistische Kräfte nachgesagt werden können, haben in den vergangenen Wochen zunehmend Kritik an der Politik der offenen Grenzen geübt, für die das Deutschland von Angela Merkel - zumindest anfänglich - eintrat. … Altkanzler Helmut Kohl hat öffentlich erklärt, 'die Ankunft neuer Flüchtlingswellen in Europa müsse mit allen Mitteln verhindert werden.' ... Das sollte man sich in Brüssel hinter die Ohren schreiben.“
Wien sind die Sicherungen durchgebrannt
Als unüberlegten Aktionismus kritisiert die liberal-konservative Tageszeitung Die Presse das Handeln Wiens:
„Statt gleich von Militär und Zäunen zu sprechen, Baumaschinen auf den Brenner zu beordern, um neue Kontrollstellen und Zäune zu errichten, hätte es vielleicht nur ein paar Minuten der Reflexion gebraucht. 'Was tun wir hier eigentlich?' Österreich 'sichert' eine Grenze, die eine lange, schwierige Geschichte hat. Die Bundesregierung sendet Signale der politischen Härte aus. … Logistische Vorbereitungen für einen möglichen Migrationsdruck hätte jeder verstanden. Der überstürzte, laut angekündigte Festungsbau auf dem Brenner mit Zäunen und Soldaten zeugt nur davon, dass bei den Verantwortlichen die Sicherungen zum Schutz vor allzu plumpem Aktionismus durchgebrannt sind.“
Brenner könnte neues Idomeni werden
Vor der Bildung von Flüchtlingslagern südlich des Brenners und neuen diplomatischen Spannungen warnt das Europaportal Euractiv:
„Sollte Österreich Kontrollen an all seinen Grenzübergängen nach Italien einführen, könnten Migranten anfangen, Camps an Italiens Nordgrenze zu errichten. Das könnte zu einer ähnlichen Situation führen wie im nordgriechischen Idomeni, wo tausende Menschen auf die Möglichkeit warten, nach Mazedonien zu gelangen. Einige Migranten könnten versuchen, Frankreich zu erreichen, das nun wahrscheinlich selbst Kontrollen an seinen Grenzen zu Italien wiedereinführen würde. ... Rom wird vermutlich scharf auf diese neue Einwanderungspolitik reagieren, weil es diese als Versuch seiner Nachbarländer interpretieren wird, Italien zu isolieren. Infolgedessen werden die Behörden der EU und Deutschlands in den kommenden Wochen wahrscheinlich bemüht sein, die bilateralen Spannungen zu verringern.“
Die Mauern unerträglicher Heuchelei
Ausgerechnet die etablierten Parteien, und noch dazu die sozialdemokratischen ziehen in Europa nun die Mauern hoch, höhnt die national-konservative Tageszeitung Il Giornale:
„Die Politik hat auf zweierlei Weise auf die Krise reagiert: Die Einen haben gesagt, dass das Problem besteht und gelöst werden muss. Die Anderen haben so getan, als existiere es nicht. Erstere wurden Populisten geschimpft, letztere galten als gute oder gutgläubige Menschen. ... Wer einen Funken Aufrichtigkeit besäße, müsste jetzt eingestehen, dass die Politik, die die Folgen der Migration ignorierte, dumm war. Ja, dumm und unglückselig. … Populisten sind häufig - und leider - Kassandren. Die anderen sind schlicht und ergreifend Heuchler. Alles Menschen mit sauberer Maske und schmutzigem Gewissen. Wie der Bauherr der Mauer am Brenner mit doppeltem Stacheldraht, Werner Fayman, ein geschniegelter sozialdemokratischer Herr. Der gleiche, der die Grenze nach Slowenien dicht gemacht hat.“
Europa ist nun mal die einzige Hoffnung
Die Flüchtlingsströme werden sich nur verlagern, abreißen werden sie nicht, glaubt die liberale Tageszeitung Kaleva:
„Mit Beginn des Frühlings in Europa treten die Vorhersagen ein: der Menschenstrom über das Mittelmeer nach Norden nimmt zu, insbesondere seitdem der Weg über die Türkei nach Europa nahezu blockiert ist. … Wenn die Berichterstattung über das Flüchtlingslager in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze abebbt, können die Europäer vielleicht bald verfolgen, wie die Flüchtlinge an der italienisch-österreichischen Grenze stranden. … Möglicherweise ist dies erst der Anfang eines großen Umbruchs. Der wohlhabende Kontinent ist zum Rettungsring für Menschen ohne Zukunftsaussichten geworden. Eine Rückkehr zu alten Zeiten in Europa wird es nicht geben.“
Alleingang wird sich rächen
Wiens rigide Grenzpolitik wird nach hinten losgehen, fürchtet die liberale Wiener Zeitung:
„Dieser österreichischen Art von Abschreckungspolitik stehen in der EU immer mehr fassungslos gegenüber ... [D]ie Regierung übersieht dabei leider das Morgen und das Übermorgen. Morgen hat sich Österreich bei der (alternativlosen) Suche nach einer europäischen Lösung des Flüchtlingsstroms ins nationale Eck gestellt. Und übermorgen, wenn das Flüchtlingsthema gelöst ist, weil in den Krisenregionen die Waffen dauerhaft schweigen, wird sich Europa wieder anderen Themen zuwenden. Viele werden sich erinnern, dass Österreich bei dieser essenziellen Frage einen eigenen Weg ging. Ob dies die Lust erhöht, der Republik bei bereits existierenden Problemen entgegenzukommen, sei bezweifelt. Wenn Österreich also den Brenner jetzt schließt, dann fangen die Probleme erst an.“
Wien versucht mit Härte zu punkten
Die österreichische Regierung schafft faktisch das Asylrecht ab, doch das Kalkül, mit Härte bei den Wählern zu punkten, geht nicht auf, analysiert der linksliberale Tages-Anzeiger:
„Zäune an den Staatsgrenzen, Schnellverfahren, sofortige Ausschaffung und keine Möglichkeit für eine Beschwerde. Nein, in dieser Aufzählung geht es nicht um Ungarn, das alle Maßnahmen bereits umgesetzt hat. Es geht um das Nachbarland Österreich, das nun ebenfalls den ungarischen Weg einschlägt: Grenzen dicht, Asylrecht außer Kraft. … [Die Große Koalition] übernimmt Sprache und Forderungen der Rechtspartei [FPÖ]. Die Wähler danken es nicht. In den jüngsten Umfragen sind SPÖ und ÖVP mit je 22 bis 24 Prozent weit entfernt von einer gemeinsamen Mehrheit. Die FPÖ, das Original ihrer unbarmherzigen Politik, liegt mit 32 Prozent unangefochten auf Platz eins.“
Die Orbánisierung Europas schreitet voran
Die ungarische Abschottung hat Schule gemacht, wettert die liberale Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore gegen die Grenzkontrollen am Brenner:
„Als Grenzmanagement beliebt der österreichische Präsident Heinz Fischer die Barriere zwischen Österreich und Italien zu bezeichnen. Als ob die Flucht in die semantische Heuchelei das Gesicht eines Landes wahren könnte, das schon beachtliche Leichen im historischen Keller hat und dennoch seit Wochen nicht zögert, den europäischen Geist, das europäische Credo zu leugnen, um sich in der Festung seines glücklichen Wohlstands zu verschanzen. Seines unteilbaren Wohlstands. Von Skandal und Schande war die Rede, als [Ungarns Premier] Viktor Orbán im vergangen September die Grenze nach Serbien dicht machte, um die Flüchtlinge aufzuhalten. Doch die fortschreitende 'Orbánisierung' Europas hat in Österreich einen begeisterten und überzeugten Mitstreiter und Meisterschüler gefunden.“
Wien dreht das Rad der Geschichte zurück
Die Südtiroler, die durch die Wiedereinführung der Grenzkontrollen am Brenner von den Tirolern in Österreich abgeschnitten werden, scheinen Wien wenig zu interessieren, murrt die liberal-konservative Tageszeitung Corriere della Sera:
„Es wird nicht nur eine Mauer zwischen Nord und Süd, zwischen zwei Teilen Europas, zwischen Italien und Österreich sein. Es wird eine Spaltung der kleinen Tiroler Welt sein. Denn die Errichtung einer neuen Mauer wirft die Südtiroler, die Schengen und die Aufhebung jeder Grenze zu ihrer Heimat als Befreiung empfunden hatten, um Jahrzehnte zurück. Alte Wunden drohen wieder aufgerissen zu werden. … In jahrzehntelangen Verhandlungen war es dank der Einsicht sowohl der Italiener, wie auch der Südtiroler gelungen, zumindest teilweise die Wunden zu heilen. Europa tat den Rest. Bis der Brenner zu einer fast nicht spürbaren Grenze wurde. Mauern, Gitter und Stacheldraht drehen nun das Rad der Geschichte zurück.“