EU und Türkei - die Gretchenfrage
Das Verhältnis zwischen EU und Türkei steht seit der Kooperation beider Seiten in der Flüchtlingskrise verstärkt im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Wie sehr brauchen beide Seiten einander und wer profitiert oder verliert im Falle einer engeren Partnerschaft? Diese Fragen diskutieren auch Journalisten und Wissenschaftler.
Die EU war der Anker
Großes Bedauern über die jüngsten Zerwürfnisse zwischen EU und Ankara äußert in der Internetzeitung T24 die Menschenrechtsaktivistin Oma Baydar, scheint doch der EU-Beitritt der Türkei damit in weite Ferne gerückt:
„Menschen wie ich verteidigen den Beitritt, weil er uns den Weg ebnen würde hin zu einer demokratischen Entwicklung, universalen Werten, dem Respekt der Gesetze, Pluralismus und einer friedlichen Lösung des Kurdenkonflikts. Natürlich wissen wir besser als die Beitrittsgegner, dass die EU nicht der Himmel auf Erden ist. ... Doch für unsere so fragile Demokratie war der Annäherungsprozess an die EU ein Anker, damit das in Schiff, das in hohe Wellen geraten war, nicht auf die Felsen prallt. ... Nun sind wir an einem Punkt angelangt, an dem die Chemie zwischen Erdoğan und der EU nicht mehr stimmt. Die EU gilt Erdoğan auf dem Weg zum Totalitarismus als Klotz am Bein. ... Und auch die EU hat an dieser Entwicklung ihren Anteil, denn sie zieht es vor, ein Christenclub zu sein, und gelegentlich ihre eigenen Werte zu verraten.“
Beziehung nicht auf Beitritt reduzieren
Dass die Türkei derzeit neue Chancen auf einen EU-Beitritt hätte, bezweifelt die konservative Tageszeitung Karar, hält dies aber auch nicht für einen Nachteil:
„Lange hat die Türkei ihre Beziehungen zu Europa in der EU-Mitgliedschaft-Parenthese gefangen gehalten. Das hat den Blick der Türkei auf Europa stark beeinflusst. Doch seit Kurzem erlebt diese Gleichung eine Wandlung: Die Türkei entwickelt mit den Hauptländern der EU, allen voran Deutschland, eine neue Art der Beziehung mit strategischer Perspektive. Diese Beziehungsform schließt eine EU-Mitgliedschaft zu einem späteren Zeitpunkt nicht aus, antizipiert sie aber auch nicht. ... Dass die EU-Kommission in ihrem Budget für 2014 bis 2020 für die Mitgliedschaft der Türkei keinerlei Posten reserviert hat, zeigt, dass die EU zumindest mittelfristig keine Perspektive hat, die Türkei aufzunehmen. Kurzum: Die Beziehungen der Türkei zu Europa werden sich allmählich vom EU-Beitrittsprozess freimachen und das ist im Grunde eine gesunde Entwicklung.“
Die Türkei braucht auch Europa
Angela Merkel ist am Wochenende mit Donald Tusk und Kommissionsvize Frans Timmermans in die Türkei gereist und hat unter anderem eine Flüchtlingsunterkunft besucht. Man sollte den Besuch nicht als Anbiederung nach dem Flüchtlingsdeal abtun, mahnt die Süddeutsche Zeitung:
„Die Europäer erliegen ihrem Innenblick, wenn sie sich selbst nur in der Not sehen und den Türken unterstellen, sie könnten nach Belieben schalten und walten. Jenseits aller von Davutoğlus Partei organisierten Jubelszenen mit dem Trio aus Europa: Die Türkei ist in einer prekären Lage, im Innern wie nach außen. Das Land ist umgeben von Kontrahenten oder Feinden. Ob Syrien, Irak, Iran oder Russland im Norden - mit keinem Nachbarn gibt es ein gutes Auskommen. Im Inneren ist die Situation so angespannt wie lange nicht. ... Deshalb braucht die Türkei Europa - auch wenn sie das niemals offen aussprechen würde. Es könnte ja als Zeichen der Schwäche interpretiert werden. Wo so viel Not ist, könnte sich also auch eine große Chance eröffnen.“
Endlich wird Ankara fair behandelt
Der Flüchtlingsdeal wird gezwungenermaßen einen Wandel in den EU-Türkei-Beziehungen bringen, ist die regierungstreue Tageszeitung Yeni Şafak überzeugt:
„Die EU-Länder, die auf die Führung der Türkei angewiesen sind, um die Migrationswelle aus Syrien aufzuhalten, müssen diesmal wohl ihre Gewohnheit aufgeben, das EU-Abenteuer der Türkei ständig zu blockieren. Die EU fertigte die Türkei jahrelang mit einer Behandlung ab, die sie nicht verdiente und fand Ausreden, damit es keine Beitrittsverhandlungen gab. Doch nun bietet sich uns die Chance, dass sie der Türkei ihre Rechte gewährt. Das beinhaltet Visafreiheit, die Eröffnung neuer Kapitel der Beitrittsverhandlungen und eine Revision der Zollunion-Verträge.“
Falscher Zeitpunkt für Zugeständnisse
Angesichts der politischen Ambitionen des türkischen Präsidenten rät La Croix der EU nachdrücklich von Konzessionen an die Türkei ab:
„Die entscheidende Frage ist weiterhin: Ist dies der richtige Zeitpunkt, um der Türkei und ihrem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ein größeres Zugeständnis zu machen? Die Antwort lautet: Nein. Politisch macht Erdoğan tagtäglich deutlich, dass er die europäischen Ideale nicht teilt. Er will sein Land zu einer unabhängigen Regionalmacht ausbauen und nicht zu einem 29. EU-Mitgliedstaat. Er sieht sich als Führer einer muslimischen Welt, die sich als Gegengewicht - oder gar als Konkurrent - zu Europa und zum Westen etabliert. … Unter diesen Bedingungen ist ein solcher Schritt unangebracht. Aktiv unterstützen sollten die Europäer hingegen diejenigen Türken, die in ihrem Land für Demokratie, Glaubens- und Meinungsfreiheit sowie Gleichheit zwischen Mann und Frau nach westlichem Vorbild kämpfen.“
Europa hat Angst vor noch mehr Muslimen
Emotional aufgeladen ist insbesondere die Diskussion um Visaerleichterungen, die der Türkei mit dem Flüchtlingsdeal in Aussicht gestellt wurden. Warum sich viele EU-Länder gegen eine Visafreiheit sträuben, erklärt das liberale Webportal Protagon:
„Seit Monaten kommen in mehreren EU-Hauptstädten tausende Muslime an, als Folge der Flüchtlings- und Migrationsströme. Dies hat die konservativen Instinkte vieler Bürger geweckt und sie noch ängstlicher gemacht. Nun fürchten die nationalen Regierungen, dass sich diese Reaktionen verstärken werden, wenn noch mehr Menschen aus einem großen islamischen Land wie der Türkei leichter in die EU einreisen können. Das ist der Grund, warum einige Regierungen in Erwägung ziehen, die Umsetzung des Abkommens zu behindern. Das heißt, wir werden folgenden Widerspruch sehen: Die EU wird den Türken im Wesentlichen erlauben, visafrei einzureisen, und die Regierungen der Mitgliedstaaten werden Wege (mögliche und auch unmögliche) suchen, um das Abkommen im Wesentlichen zu boykottieren.“
Mehr Selbstbewusstsein der Türkei, bitte
Europa braucht die Türkei - allerdings in einer selbstbewussten und modernen Variante, mahnt die Tageszeitung Jutarnji list:
„Diese türkische Regierung verhält sich vollkommen komplexbeladen. Dabei zeigen sowohl die Vergangenheit als auch die Perspektiven der Türkei, dass sie wahrlich keine Komplexe haben muss. Europa braucht die Türkei. Aber eine Türkei, die den Frauen das Wahlrecht früher gab als viele andere europäische Staaten, und die nicht weniger Toleranz gegenüber Minderheiten zeigt als das verblichene Osmanische Reich. So eine Türkei kann ein wahrer Partner sein. Aber nicht, solange sie sich aufführt wie ein herumstolzierender, kleiner, rabiater Cäsar - von solchen Cäsars haben wir in Europa genug. So schadet die Türkei nur sich selbst und den Muslimen in Europa, gegenüber denen sie eigentlich eine moralische Verantwortung haben müsste. So fördert sie nur islamfeindliche Kräfte in Europa. Auch damit kann sie zur Homogenisierung der Union beitragen - aber auf einer sehr negativen Grundlage.“
Ankara macht die Drecksarbeit für die EU
Für Dries Lesage, Professor für Internationale Studien an der Universität Ghent, zeigt der Flüchtlingsdeal mit der Türkei, dass die EU in neokolonialem Denken und Handeln verhaftet bleibt. Er schreibt in De Morgen:
„Unsere gesellschaftliche Debatte müsste viel stärker auf die Konsequenzen der Krise eingehen anstatt sich auf reine Stimmungsmache zu beschränken. ... Warum ist fast niemand an einer detaillierten Diskussion über die Kosten und die Verteilung der Lasten interessiert? Der Grund ist, dass der Deal in einem neokolonialen Rahmen gestellt wird, sowohl politisch als auch mental. Die schickeren Regionen der Welt darf man eben nicht mit ein paar Millionen Flüchtlingen stören. Das finden viele ganz selbstverständlich. Es ist merkwürdig, dass die Türkei sich in eine so ehrlose, untergeordnete Rolle hat drängen lassen.“
Heuchlerische Kritik an Demokratiedefizit
Es ist doch merkwürdig, dass sich Europa ganz plötzlich für Missstände in der Türkei interessiert, die es jahrelang systematisch ignoriert hat, merkt die liberale Tageszeitung Hürriyet Daily News an:
„Europäische Hauptstädte stellten sich taub bei Klagen über Menschenrechtsverletzungen im Südosten der Türkei. Journalisten und Wissenschaftler, die ins Gefängnis geschickt wurden, schafften es nie auf Merkels Agenda. Europa insgesamt drückte von Beginn an ein Auge zu, als sich die demokratischen Standards nach 2010 verschlechterten. Die Entwicklung kam den Interessen der Europäer sogar gelegen, denn jeder Rückschritt in Sachen Demokratie bedeutete den weiteren Aufschub einer EU-Mitgliedschaft der Türkei. Die jüngste Entdeckung der öffentlichen Meinung in Europa, dass die Türkei in Richtung einer autoritären Herrschaft abgleitet, ist nicht dem plötzlichen Wunsch geschuldet, eine demokratischere Türkei zu erleben. Unzufrieden mit dem Flüchtlingsdeal entschied man sich, Merkel dafür zu kritisieren, sich auf einen Führer einzulassen, der demokratische Normen und Werte nicht respektiert.“