In Frankreich beginnt das Hochsicherheitsturnier
Rund 90.000 Sicherheitskräfte sind im Einsatz, vor den Stadien gibt es strenge Kontrollen, das Innenministerium hat eine Terrorwarn-App herausgegeben. Noch nie war eine Europameisterschaft so sehr vom Thema Sicherheit dominiert. Die Angst überschattet das Turnier, sind einige Kommentatoren besorgt. Andere rufen dazu auf, das Fußball-Ereignis in vollen Zügen zu genießen.
Meisterschaft der Angst
Trotz des großen Sicherheitsaufgebots zur EM warnen Experten vor einem Restrisiko. Die Angst überschattet die Spiele, seufzt die Tageszeitung Corriere del Ticino:
„Es wäre schön, nur über Fußball reden zu können, über die Relevanz dieser EM, an der erstmals 24 Länder teilnehmen, darunter die Schweiz, nach der enttäuschenden Abwesenheit von vor vier Jahren; über die vielen Fußballstars, welche die Aufmerksamkeit der Fans auf sich lenken werden, reich an Emotionen, Freude und Enttäuschung. Doch die heute beginnende EM ist die erste Meisterschaft der Angst. Es ist eine Angst, die man auf jede nur denkbare Weise versucht zu verscheuchen. Einerseits durch die Fiktion der Normalität, die jedoch Gefahren birgt (etwa das Festhalten an den Fanzonen), und andererseits durch das Aufgebot strenger Sicherheitskontrollen. Dies ist wiederum unerlässlich, um einen möglichen Terror-Anschlag zu vereiteln, der verheerende Folgen für unsere westliche Gesellschaft hätte.“
Wir kapitulieren schon vorab vor dem Terror
Über dem Turnier in Frankreich liegt nicht nur der Schatten drohender Terror-Anschläge, sondern auch ein gefährlicher Defätismus, ärgert sich Lidové noviny:
„Frankreich hat den Ausnahmezustand nach den Novemberanschlägen noch nicht aufgehoben. Trotzdem kommt von Sicherheitskreisen die Warnung: Greifen Terroristen die EM an, beenden wir das Turnier. Man könne nicht den Fußball feiern, wenn man Opfer zu beerdigen habe. Sicherheitsleute übertreiben gern vorher ein bisschen, um nicht vorgeworfen zu bekommen, sie hätten die Lage unterschätzt. Aber dieser Defätismus ist bemerkenswert. ... Zu sagen, dass die EM im Falle eines Anschlags endet, ist in gewisser Weise eine Ermunterung an die Adresse der Dschihadisten. ... Damit kapitulieren wir schon vorab.“
Genießen Sie Fußball, so lange es noch geht
Es ist vollkommen unklar, ob es nach diesem Jahr jemals wieder derart riesige Sportveranstaltungen geben wird, fürchtet die finnische Tageszeitung Aamulehti:
„Die Funktionäre im Spitzensport und besonders im Sportbusiness stehen in letzter Zeit im Zentrum verschiedener Korruptionsskandale. Große Sportevents werden von Streiks, Terrorismus, Angst vor Epidemien und von politischen Krisen überschattet. Trotz alledem ist 2016 das Jahr der Megaveranstaltungen und als eine der wichtigsten davon startet heute die Fußball-EM in Frankreich. Zum Beispiel im kleinen Island ist das ein großes Ding. Die dortigen Fußballfreunde sollten die EM in vollen Zügen genießen. Es kann nämlich gut sein, dass es in Zukunft keinen Sinn mehr machen wird, derartige Mammutspiele überhaupt zu veranstalten.“
Endlich mal wieder gemeinsam Spaß haben
Angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Sorgen vieler Europäer und der Angst vor Terror betrachtet La Libre Belgique die Europameisterschaft als eine willkommene Ablenkung:
„Machen wir keinen Hehl aus unserer Freude! Sport - und ganz besonders Fußball - hat den großen Verdienst, diejenigen zu vereinen, die ihn ausüben oder leidenschaftlich mitverfolgen. Das ist vielleicht ein Klischee, doch es steckt auch ein bisschen Wahrheit darin. … Natürlich sollten wir die Augen nicht vor der Realität verschließen: Den Ärmsten bleibt der Zugang zu den Stadien verwehrt und bei den Begegnungen steht nicht nur die sportliche Leistung auf dem Spiel. Auch ist das Wohlwollen gegenüber dem Turnier keine Begnadigung für den Profifußball. Trotzdem macht der Wettbewerb Hoffnung auf eine willkommene Zäsur. Wir dürfen uns nicht lähmen lassen, sondern sollten zusammen, alle gemeinsam, einige Stunden das miteinander teilen, was in der heutigen Zeit zu einem raren Gut geworden ist: das Glück.“
Gelungenes Turnier würde Frankreich gut tun
Für das Gastgeberland geht es bei dieser EM um viel mehr als nur Fußball, betont Le Temps:
„Frankreich, wo es aus sozialer Sicht nach wie vor brodelt und das zum Gespött der ganzen Welt zu werden droht, sollten die Streiks den Ablauf des Turniers stören und Millionen von Fans wütend machen, braucht dringend eine Waffenruhe und eine Phase des Konsens. Was eignet sich da besser als Fußball, um die Wunden dieses erschöpften Landes, wo der soziale Dialog gescheitert ist, vorübergehend zu schließen? Fußball, dieser beliebte Sport, der auch ein soziales Phänomen ist? … Eine gelungene Europameisterschaft ohne größere Sicherheitspannen, ohne logistisches Chaos und vor allem ohne Anschläge wäre ein Beweis dafür, dass unser Nachbar, das meistbesuchte Land weltweit, trotz Hindernissen weiterhin fähig ist, Einheit zu demonstrieren und ein gigantisches Event zu organisieren.“
An Fußball glaubt man noch, an Europa nicht mehr
Auf die letzte wirklich "europäische EM" stellt sich die Berliner Zeitung ein und rechnet mit einem Turnier, auf dem
„sich Europa nicht emphatisch feiert, sondern vielmehr fürchten muss, ein letztes Mal auf sportlichem Weg einen Meister im Namen der politischen Gemeinschaft zu ermitteln. Alle wollen den Titel, aber auf die politische Idee, die der Veranstaltung den Namen gibt, ist kaum noch jemand bereit, eine nennenswerte Sportwette abzugeben. Es ist schon mehr als kurios, dass die junge englische Mannschaft gute Chancen hat, bei dieser EM das etwas angestaubte Image des Inselfußballs auf dem Spielfeld aufzupolieren, während die Fans und Wähler im eigenen Land danach trachten, dem europäischen Gedanken eine desaströse Niederlage beizubringen.“